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Die unvollendete Autobiographie, Seite 130 ff. (engl.)
Menschenfreundlichkeit noch besser zum Ausdruck bringt. Eines Tages als es zum Frühstück läutete, kam ein grosser, plumper, schmutziger alter Mann - der schlimm aussah und zum Himmel stank - auf mich zu und sagte: «Kommen sie mit mir um die Ecke. Ich möchte mit ihnen sprechen». Ich habe mich nie vor einem Mann gefürchtet und ging mit ihm um die Ecke. Er langte in seine Arbeitshose und zog die Hälfte einer sauberen, weissen Schürze heraus. Er sagte: «Sehen sie hier, Miss, das habe ich heute morgen meiner Frau geklaut und ich hänge es hier an den Nagel. Ich will nicht, dass sie ihre Hände an dem dreckigen Lappen im Frauenabort abtrocknen. Ich habe auch die andere Hälfte und werde sie aufhängen, wenn diese schmutzig ist». Er drehte sich auf dem Absatz um ehe ich Zeit hatte, ihm zu danken, und er sprach nie wieder zu mir; aber es hing da immer ein reiner Lappen, an dem ich meine Hände abtrocknen konnte.

Ich bin sicher, dass wir im Leben das erhalten, was wir geben. Ich hatte gelernt, nicht hochnäsig zu sein; ich predigte nicht mehr; ich versuchte lediglich, höflich und freundlich zu sein und deshalb bezahlten mich die anderen mit gleicher Münze; und das kann jeder andere ebenso machen - was die Moral meiner Geschichte ist. Ich erinnere mich an eine Frau, die vor ein paar Jahren in New York zu mir ins Büro kam, um mich um Rat zu fragen. Das Wesentliche an ihrer Geschichte war, dass es ihr sehr schlecht ging, weil jeder über sie klatschte und sie nicht wusste, was sie dagegen tun könne. Sie weinte und klagte; die Menschen wären so grausam mit ihrem Gerede, und ich möchte ihr doch bitte helfen. Da ich sie nie zuvor gesehen hatte und von den eigentlichen Tatsachen nichts wusste, so tat ich, was ich konnte. Merkwürdigerweise ereignete es sich, dass ich wenige Tage später mit meinem Mann, Foster Bailey, in ein Restaurant ging, wo die Tische durch kleine Verschläge voneinander abgeteilt waren. In der nächsten Nische sah ich diese Frau, aber sie sah mich nicht. Sie sprach mit lauter, klarer Stimme zu einer Freundin, und ich konnte jedes Wort verstehen. Was sie da über ihre Bekannten sagte, spottet jeder Beschreibung. Nicht ein einziges, freundliches Wort kam über ihre Lippen Sie tischte ihrer Freundin all das auf, was sie an sogenanntem «Schmutz» über all ihre Bekannten wusste. Jetzt wusste ich die Antwort auf ihr Problem, und bei ihrem nächsten Besuch sprach ich zu ihr darüber vielleicht zu ungeschminkt, denn ich bekam sie nie wieder zu sehen. Wahrscheinlich konnte sie mich nicht leiden, und die Wahrheit bestimmt noch weniger.

Meine Arbeit in der Fabrik dauerte noch mehrere Monate. Walter Evans hatte inzwischen Montana verlassen und war an eine Universität im Osten gegangen, um einen Fortbildungskurs mitzumachen. Ich hörte nur selten von ihm. Er schickte mir auch kein Geld, und im Jahr 1916 konsultierte ich einen Rechtsanwalt wegen einer Ehescheidung. Ich konnte einfach nicht mehr die Möglichkeit ins Auge fassen, zu ihm zurückzukehren und die Kinder seinen Wutausbrüchen und seiner mürrischen Laune auszusetzen. Er hatte mir keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass er sich irgendwie geändert hätte, und er bewies auch keinerlei Verantwortungsgefühl in bezug auf die Kinder und mich. Im Jahr 1917, als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, ging er mit dem Christlichen Verein junger Männer nach Frankreich und blieb dort bis zum Kriegsende. Er leistete ausgezeichnete Dienste und erhielt das Croix de Guerre. Deshalb zog ich damals meine Scheidungsklage zurück, weil man es Frauen allgemein sehr übelnahm, wenn sie sich scheiden liessen, während ihre Männer an der Front waren. Mir erschien das durchaus nicht logisch, denn der Mann an der Front ist doch der gleiche wie der Mann in der Heimat. Ich habe auch nie verstehen können, warum jeder Soldat in der Armee als Held angesehen wird. Wahrscheinlich wurde er eingezogen und konnte nichts dagegen tun. Ich kenne Soldaten ganz genau und weiss, dass sie die «Helden»-Geschichten in den Zeitungen und in der Öffentlichkeit verabscheuen.

Ich hatte es aufgegeben, Walter zu schreiben und hatte ein Gefühl der Erleichterung, weil er so weit weg war. Den Kindern ging es gut, ich hatte viel Freude an ihnen und fühlte mich selbst gesund, obgleich ich nur 99 Pfund wog. Es war mir gelungen, meine Kinder zu ernähren, und ich schien der Lage allmählich Herr zu werden. Im geistigen Sinn tappte ich noch immer im Dunkeln, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen und für meine drei kleinen Mädchen zu sorgen, als dass ich mir um meine Seele viel Gedanken gemacht hätte.

KAPITEL IV

Walter Evans hatte mich verlassen, als ich fünfunddreissig Jahre alt war. Ich habe oft beobachtet, dass dieses Alter häufig ein Wendepunkt im Leben vieler Menschen bedeutet. Wenn jemand überhaupt seine Lebensaufgabe finden oder in irgendeinem Leben ein bestimmtes Mass an Gewissheit und Nützlichkeit erreichen soll, dann wird es um diese Zeit herum dazu kommen. Numerologen werden wohl als Grund dafür angeben, dass 7 X 5 = 35 ist; dabei deutet sieben auf einen vollständig abgeschlossenen Zyklus und das Eingangstor zu neuer Erfahrung, während fünf die Zahl des Denkprinzips und jener intelligenten Kreatur ist, die wir Mensch nennen. Ob das stimmt, weiss ich nicht. Ich bin sicher, dass an der Numerologie etwas dran ist, denn man sagt, dass Gott durch Zahlen und Formen wirkt; aber von den gewöhnlichen numerologischen Schlussfolgerungen habe ich nie viel gehalten.

Tatsache bleibt immerhin, dass ich im Jahr 1915 in einen ganz neuen Lebenszyklus eintrat, dass ich erstmalig merkte, dass ich ein Denkvermögen besass und es auch anwandte, wobei ich seine Biegsamkeit und Kraft entdeckte und es als «Scheinwerfer» in meine eigenen Angelegenheiten und Ideen, in die Welt meiner weiteren Umgebung und in ein Forschungsgebiet hineinleuchten liess, das man geistig nennen könnte, - in die Welt, die der alte Hindulehrer Patanjali die «Regenwolke erkennbarer Dinge» nennt.

Während der schwierigen Zeit, die ich als Fabrikarbeiterin durchmachte, kam ich mit der Theosophie in Berührung. Trotz ihrer schönen und umfassenden Bedeutung mache ich mir aus dieser Bezeichnung nichts, denn die öffentliche Meinung verbindet damit so viel, was sie ihrem Wesen nach nicht ist. Ich hoffe im weiteren Verlauf - soweit mir das möglich ist - zu zeigen, was die Theosophie in Wirklichkeit ist. Mir eröffnete sich damit eine neue geistige Lebensepoche.

In Pacific Grove lebten damals zwei englische Frauen, die der gleichen britischen Gesellschaftsschicht entstammten wie ich. Ich war ihnen nie vorgestellt worden, hatte aber das Verlangen, sie kennenzulernen, hauptsächlich weil ich einsam war. Ich hätte gern mit jemandem aus der alten Heimat gesprochen, und ich war ihnen auf den Strassen der kleinen Stadt verschiedentlich begegnet. Eines Tages hörte ich gerüchtweise, sie würden zur Besprechung irgendeines merkwürdig klingenden Themas eine Versammlung in ihrem Haus abhalten und es gelang einer gemeinsamen Freundin, mir dazu eine Einladung zu verschaffen. Was mich zum Hingehen veranlasste, war also ein rein persönliches Motiv. Ich ging hin, nicht um etwas Neues oder Interessantes zu hören oder um Hilfe zu erhalten, sondern weil ich einfach mit diesen beiden Frauen bekannt werden wollte.

Den Vortrag fand ich sehr langweilig und den Redner sehr dürftig. Ich kann mir überhaupt keinen schlechteren Redner vorstellen. Er begann ohne alle Umschweife mit der Behauptung, dass «vor neunzehn Millionen Jahren die Herren der Flamme von der Venus kamen und im Menschen den Keim des Denkvermögens einpflanzten». Abgesehen von den anwesenden Theosophen glaube ich nicht, dass irgend jemand im Zimmer wusste, wovon er sprach. Nichts von dem, was er sagte, hatte irgendwelchen Sinn für mich. Ein Grund dafür war der, dass ich zu jener Zeit das Anfangsdatum des evolutionären Zyklus der Bibel entnahm, und der Bibel zufolge fand die Erschaffung der Welt im Jahr 4004 v. Chr. statt. Ich war mit meinen Haushalts- und Mutterpflichten viel zu beschäftigt gewesen, als dass ich zum Lesen aller landläufigen Bücher über Evolution Zeit gefunden hätte. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt an Evolution glaubte und entsinne mich, dass ich Darwin und Herbert Spencer mit einem Gefühl der Schuld und der Abtrünnigkeit von Gott las. Der Gedanke, die Welt könne neunzehn Millionen Jahre alt sein, kam mir geradezu wie eine Gotteslästerung vor.

Der Vortragende wanderte in der gesamten Gedankenwelt herum. Er sagte seinen Zuhörern, dass ein jeder von ihnen einen Kausalkörper habe, und dass dieser Kausalkörper anscheinend von einem Agnishvatta bewohnt sei. Das schien mir ein kompletter Blödsinn zu sein und ich bezweifle, ob ein derartiger Vortrag überhaupt jemandem nützt. Ich fasste damals den Entschluss, dass wenn ich jemals Vorträge halten würde, ich mir alle Mühe geben wollte, genau das Gegenteil von dem zu sein, was dieser theosophische Redner war. Eines hatte ich aber gewonnen - die Freundschaft dieser beiden Frauen. Sie nahmen sich sofort meiner an und gaben mir Bücher zu lesen; ich ging in ihrem Haus ein und aus, unterhielt mich mit ihnen und stellte viele Fragen.

Meine Tage wurden von da ab sehr lang. Ich stand um vier Uhr morgens auf, um das Haus sauber zu machen und das Mittagbrot für die Kinder vorzubereiten; nachdem ich sie gewaschen und angezogen hatte, gab ich ihnen um sechs ihr Frühstück. Um halb sieben brachte ich sie dann gewöhnlich zu meiner Nachbarin, und dann ging's zur Fabrik, wo ich diese elenden Sardinen verpackte. Mein zweites Frühstück habe ich bei schönem Wetter meistens an einem kleinen Badestrand gegessen, und gegen vier oder halb fünf war ich dann wieder zu Hause. Zur Winterszeit spielte ich zu Hause mit den Kindern oder las ihnen etwas vor. Im Sommer nahm ich sie gewöhnlich mit an den Strand. Um sieben Uhr waren wir dann wieder zu Hause zum Abendbrot, und dann wurden sie alle drei ins Bett gesteckt. Nachdem ich die Wäsche eingeweicht oder den Brotteig angemacht hatte, kroch ich dann selbst ins Bett und las meistens bis Mitternacht.

Ich habe immer zu den Leuten gezählt, die ihrem Temperament nach sehr wenig Schlaf brauchen. Als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, sagte mir ein Arzt, der mich sehr gut kannte, ich brauchte nicht mehr als vier Stunden Nachtschlaf, und er hatte durchaus recht. Bis zum heutigen Tag stehe ich gewöhnlich um 4 Uhr 30 auf, nehme mein Frühstück ein und dann schreibe und arbeite ich bis 7. Das ist von jeher mein Lebensrhythmus gewesen und das erklärt vielleicht, warum ich soviel leisten konnte.

Ein anderer Grund, der mir half, anstrengende Arbeit zu leisten, war die streng geregelte Disziplin meiner Mädchenzeit. Ich konnte einfach nicht dem Müssiggang verfallen. Man erlaubte mir nie, müssig zu sein und deshalb bin ich's auch nie. Da ist noch ein dritter Grund, der sich vielleicht für viele andere als nützlich erweisen könnte. Es gab so vieles, was ich wissen wollte, und ich musste für so vieles Zeit finden, ohne dabei meine Kinder zu vernachlässigen. Ich vernachlässigte die Kinder auch nie, aber dazu brauchte ich einen Plan, ein methodisches Vorgehen und allerhand Selbstdisziplin. Ich lernte bügeln, mit einem Buch vor mir, und bis zum heutigen Tag kann ich lesen und dabei bügeln, ohne die Kleider anzusengen. Ich lernte beim Lesen Kartoffeln schälen, ohne mich in die Finger zu schneiden, und ich kann Erbsen aushülsen und Bohnen entfäden, während ich ein Buch vor mir habe. Ich lese stets, wenn ich nähe oder flicke. Das lernte ich, weil ich es mir einfach vornahm, und viele Frauen könnten das ebenso machen, wenn sie wissensdurstig genug sind. Das Schlimme ist eben nur, dass viele von uns das gar nicht anstreben oder versuchen. Ich lese auch äusserst schnell und erfasse ganze Absätze oder sogar Seiten ebenso schnell, wie andere einen einzigen Satz lesen. Ich weiss nicht mehr, wie man diese visuelle Fähigkeit technisch nennt. Viele könnten es ebenso und noch besser tun, wenn sie bloss den Versuch machten.

Ich kam sozusagen zu einer Vereinbarung mit meinem Gewissen in bezug auf meine Mutter- und Haushaltspflichten. Ich hatte eine mir bekannte Frau beobachtet, die fünf Kinder hatte. Anscheinend hatte sie vom Himmel den Ruf erhalten, in die Welt zu gehen und das Wort zu verkünden, und sie ging auch und lehrte - auf Kosten der Kinder, die sie unter der Obhut ihrer ältesten Tochter, die eben erst fünfzehn war, zu Hause liess. Das Kind tat, was es konnte, aber für vier andere Kinder zu sorgen ist eben keine Kleinigkeit. Wir mussten alle mit einspringen und helfen, sie abzufüttern und zu baden und, wenn nötig, zu bestrafen. Das war mir eine Lehre und ein entsetzlich abschreckendes Beispiel. Ich beschloss also, meinen Kindern und meinem Haushalt meine ganze Zeit zu widmen, bis sie wenigstens halb erwachsen sein würden. Als sie soweit waren und sich selbst nützlich machen konnten, mussten sie mir die Arbeit wenigstens zur Hälfte abnehmen.

Etwa im Jahr 1930, als sie praktisch alle erwachsen waren, sagte ich ihnen, ich stünde ihnen als Beraterin und Mutter zur Verfügung, aber nachdem ich ihnen nahezu volle zwanzig Jahre gewidmet hätte, müssten von jetzt an meine öffentlichen Pflichten den Vorrang bekommen. Ich bat sie, daran zu denken, dass ich immer da sein würde und ich denke, sie haben das auch getan oder werden es tun, auch wenn ich nicht mehr da bin.

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.