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Die unvollendete Autobiographie, Seite 124 ff. (engl.)
und voller Wirklichkeit und herrlicher Gelegenheit, dass diese Generation für die Kindereien der Theologie keine Zeit hat. Glücklicherweise gibt es innerhalb jeder Kirche einige wenige weitblickende Menschen, welche diese reaktionäre Einstellung allmählich ändern werden, aber dazu gehört Zeit. Bis dahin werden die verschiedenen Kulte und Ismen die Menschen gefangen halten. Das wäre nicht nötig, wenn die Kirchen erwachen und einer suchenden, drängenden Menschheit das bieten würden, was sie braucht - kein Schlafmittel, keine Autorität, keine wohlklingenden Gemeinplätze, sondern den lebendigen Christus.

Nachdem wir, wenn ich nicht irre, ungefähr sechs Monate lang in dieser Weise zugebracht hatten, sah ich den Bischof wieder und sagte ihm, dass Walter sich gut benommen habe. Der Bischof bemühte sich deshalb in sehr freundlicher Weise um eine neue Stelle für ihn, in der er sich erneut kirchlich betätigen könnte. Schliesslich besorgte er ihm eine kleine Pfarre in einem Bergarbeiterdorf im Staat Montana, unter der Bedingung, dass ein Teil seines monatlichen Gehaltes mir überwiesen werden sollte. Ich zog inzwischen in ein kleines Dreizimmerhäuschen in einer dichter bewohnten Gegend von Pacific Grove. Das war im Jahr 1915 und das letzte Mal, dass ich Walter Evans je zu Gesicht bekam. Von seinem Gehalt wurde mir fast nie etwas überwiesen, und seine Briefe wurden immer beleidigender. Sie waren voller Drohungen und Anspielungen. Ich war völlig hilflos, und es wurde mir klar, dass ich mein Leben allein einrichten und das tun müsste, was für meine drei kleinen Mädchen am besten wäre.

Der Krieg in Europa war in vollem Gang. Alle meine Verwandten waren darin verwickelt. Mein kleines Einkommen erreichte mich nur unregelmässig. Es lagen schwere Steuern darauf, und manchmal kam der Bankscheck überhaupt nicht an, weil der Postdampfer versenkt worden war. Ich befand mich in einer äusserst schwierigen Lage, ohne einen Verwandten im Land, an den ich mich wenden konnte und (abgesehen vom Bischof und seiner Frau) ohne Freunde, mit denen ich mich gern unterhalten hätte. Ich war allerdings von lieben und guten Freunden umgeben, aber keiner von ihnen war in der Lage, irgend etwas für mich zu tun; und wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, glaube ich kaum, dass ich sie jemals wissen liess, wie verzweifelt meine Lage wirklich war. Der Bischof wollte meinen Verwandten schreiben und sie über die Situation unterrichten, aber ich liess das nicht zu. Ich habe immer an das Sprichwort geglaubt: «Wie man sich bettet, so schläft man» und es liegt mir nicht, meinen Freunden etwas vorzuweinen. Ich weiss, «Gott hilft denen, die sich selbst helfen», aber damals kam es mir vor, als ob mich sogar Gott im Stich gelassen habe, und ich konnte mich nicht einmal winselnd an ihn wenden.

Ich sah mich nach etwas um, was mir etwas Geld einbringen würde, musste aber feststellen, dass ich eine vollkommen unbrauchbare Person war. Ich konnte wunderschöne Spitzen herstellen, aber niemand wollte Spitzen haben, und in Amerika konnte ich mir sowieso nicht das dazu nötige Material besorgen. Ich besass keine besonderen Fähigkeiten; ich konnte nicht Maschine schreiben; ich konnte nicht unterrichten; ich wusste nicht, was ich tun sollte. Es gab nur eine einzige Industrie in der Gegend, und das war die Sardinenindustrie, und um meine Kinder nicht verhungern zu lassen, beschloss ich, Arbeiterin in einer Sardinen-Konservenfabrik zu werden.

Ich erinnere mich an jene Krisenzeit, als ich zu diesem Entschluss gelangte. Es handelte sich um eine grössere, geistige Krise. Wie bereits erwähnt, war ich bei meiner Ankunft in Amerika voller Zweifel in bezug auf die geistigen Wahrheiten, an die man glauben konnte. Der theologische Kursus, den ich bald darauf mitmachte, half mir nicht. Jeder theologische Kursus ist dazu angetan, den Glauben eines Menschen zu untergraben, wenn er intelligent genug ist, Fragen zu stellen, und wenn er nicht zu denen gehört, die alles blind hinnehmen, was ein Geistlicher sagt. Die Kommentare, die ich in der theologischen Bibliothek zu Rate zog, schienen mir fade, schlecht abgefasst und voll nichtssagender Redensarten zu sein. Sie beantworteten keine einzige Frage; sie ergingen sich in abstrakten Begriffen; sie gingen der Wirklichkeit selbst dann aus dem Weg, wenn sie Gottes Meinung und Absicht genau zu wissen vorgaben, und sie suchten alle Probleme dadurch zu lösen, dass sie den Hl. Augustin, Thomas von Aquino und die Heiligen des Mittelalters zitierten. Theologen scheinen niemals geneigt zu sein, einer Sache auf den Grund zu gehen; sie verschanzen sich immer hinter der abgedroschenen Behauptung, dass «Gott gesagt hat». Vielleicht hat er aber «nicht gesagt»; vielleicht war die Übersetzung falsch; vielleicht war der betreffende Ausspruch in den Text eingeschoben worden - wie das vielfach in der Bibel vorkommt. Dann tauchte in mir die Frage auf: «Warum sprach Gott nur zu den Juden?» Ich wusste nichts von den anderen Schriften in der Welt, und wenn ich davon gewusst hätte, dann hätte ich sie nicht als Heilige Schriften angesehen. Es gab da Stellen im Alten Testament, die mich entrüsteten, und bei einigen konnte ich überhaupt nicht verstehen, wieso man sie je zum Postversand zulassen konnte. In einem gewöhnlichen Buch würden sie nach unseren Postbestimmungen als anstössig betrachtet werden, aber in der Bibel waren sie zulässig. Schliesslich fragte ich mich, ob meine Auslegungen nicht genau so gut wären, wie die von irgend jemand anderm. Ich weiss noch, wie ich eines Tages über den Bibelvers nachdachte «Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählet» (Matth. 10, 30) - und es schien mir, als ob Gott doch allerhand Statistiken führe. Ich befragte einen Theologen im Seminar und er antwortete, diese biblische Behauptung sei der Beweis dafür, dass Gott nicht an Zeit gebunden sei. Als nächstes stellte ich fest, dass das Kreuz kein christliches Symbol, sondern viel älter als das Christentum ist, und das war der letzte Schlag.

Ich war also vollkommen enttäuscht vom Leben, von der Religion in ihrer orthodoxen Darstellung und von den Menschen, besonders meinem eigenen Mann, den ich für ideal gehalten hatte. Niemand brauchte mich, ausser drei kleinen Kindern, und vorher hatten mich doch Hunderte und Tausende gebraucht. Nur eine kleine Handvoll Leute sorgten sich in ihrem geschäftigen Leben etwas darum, was aus mir wurde, und ich hatte früher doch vielen Menschen etwas bedeutet. Ich schien an dem Punkt angelangt zu sein, wo ich vollkommen nutzlos und gerade noch gut genug war für die gewöhnliche Hausarbeit des kleinbürgerlichen Daseins, die Hunderte von Frauen von geringerer Herkunft, mit weniger Schulbildung und Verstand wahrscheinlich besser machten als ich. Ich hatte es satt, Windeln zu waschen und Butterbrote zu streichen. Ich lernte, was es bedeutet, vollkommen verzweifelt zu sein. Meine einzige Freude waren die Kinder, aber sie waren so klein, dass ihre heilende Kraft in ihrem Mangel an Verständnis lag.

Mein Zustand erreichte eines Tages seinen Höhepunkt, als ich vollends verzweifelt die Kinder einer Nachbarin überliess und allein in den Wald ging. Stundenlang lag ich mit dem Gesicht auf dem Boden und rang mit meinem Problem, und dann stellte ich mich unter einen grossen Baum, den ich wahrscheinlich wiederfinden würde, wenn das Gelände nicht inzwischen bebaut ist, und sagte Gott, ich sei ganz verzweifelt und würde alles über mich ergehen lassen, was mir bestimmt sei, wenn er mich bloss zu einem nützlicheren Leben freimachen würde. Ich sagte ihm, dass ich einfach nicht mehr wüsste, was ich sonst noch «um Jesu willen» tun könnte; ich hätte wirklich nach besten Kräften alles um seinetwillen getan; ich hätte ausgefegt und abgestaubt, für die Babys gekocht und gewaschen und für sie gesorgt und es doch zu nichts gebracht.

Ich weiss noch, wie tief verzweifelt ich war, dass ich keinerlei Antwort erhielt. Ich war dessen so sicher, dass ich eine Antwort bekommen würde, wenn ich verzweifelt genug wäre; dass ich wieder eine Art von Vision haben oder eine Stimme hören würde, wie ich sie schon früher gehört hatte, die mir sagte, was zu tun sei. Ich hatte aber keine Vision; ich hörte keine Stimme; und so eilte ich einfach nach Hause, um das Abendbrot zu machen. Während dieser ganzen Zeit war ich jedoch gehört worden, nur wusste ich es nicht. Ohne dass ich es sah, öffnete sich eine Tür für mich, und ohne dass ich es wusste, stand ich vor dem glücklichsten und segensreichsten Abschnitt meines Lebens. Viele Jahre später pflegte ich meiner Tochter zu sagen: «Wir wissen nie, was uns die nächste Wegbiegung eröffnet.

Am nächsten Morgen ging ich zu einer der grossen Konservenfabriken und bewarb mich um Arbeit. Ich wurde angenommen, weil es Hochsaison war, und man Hilfe brauchte. Ich machte mit einer Nachbarin aus, sie solle die Kinder beaufsichtigen, ich würde ihr die Hälfte meines Lohnes geben, was immer dabei herauskäme.

Es handelte sich um Akkordarbeit, und ich wusste, dass ich flink war und hoffte, viel Geld zu verdienen; und das tat ich dann auch. Ich ging jeden Morgen um 7 zur Arbeit und kehrte gegen 16 Uhr nachmittags heim. Während der ersten drei Tage litt ich so unter dem Lärm, dem Gestank, der fremden Umgebung und dem langen Hin- und Rückweg zwischen der Fabrik und unserem Häuschen, dass ich in tiefe Ohnmacht fiel, sobald ich nach Hause kam.

Ich gewöhnte mich jedoch daran, denn die Natur ist anpassungsfähig, und ich betrachte diese Zeit als eine der interessantesten Erfahrungen meines Lebens. Ich war unter den Leuten, ich war eine gewöhnliche Frau Niemand und hatte doch immer gedacht, ich sei etwas Besonderes. Ich nahm eine Stellung ein, die jeder andere ebenso gut einnehmen konnte. Ich war ungelernte Arbeiterin. Erst kam ich in die Etikettierabteilung und klebte «Del Monte»-Etiketten auf die grossen, ovalen Sardinenbüchsen; aber dabei konnte ich trotz aller Anstrengung nicht genügend Geld verdienen. Man war sehr freundlich zu mir in dieser Abteilung. Ich denke, jeder sah mir an, dass ich Angst hatte, denn eines Tages stiess mich der Mann, der mir die Sardinenbüchsen zum Bekleben auf den Tisch warf, ziemlich plump in die Rippen und sagte: «Hören sie mal, ich weiss wer sie sind. Die Schwester meiner Frau stammt aus R. ... und hat mir von ihnen erzählt. Wenn sie jemanden brauchen, der für sie eintritt und aufpasst, dass keiner frech zu ihnen wird, dann verlassen sie sich bloss auf mich». Er sprach nie wieder zu mir, aber er nahm mich sozusagen unter seine Fittiche. Ich hatte stets genügend Büchsen zum Bekleben und ich bin ihm sehr dankbar.

Man riet mir, in die Packabteilung zu gehen, wo die Sardinen in Büchsen verpackt wurden, und das tat ich dann auch. Dort fand ich eine viel gröbere Gruppe von Fabrikarbeitern vor - ziemlich ausgekochte Frauen, Mexikanerinnen, und eine Sorte von Männern, die mir sogar in der Sozialfürsorge noch nie begegnet waren. Als ich zuerst in diese Abteilung kam, machten sie mir das Leben schwer, indem sie sich über mich lustig machten. Ich passte scheinbar nicht zu ihnen. Ich war offensichtlich zu fein und benahm mich natürlich äusserst anständig, und sie wussten nicht, was sie von mir halten sollten. Gelegentlich rotteten sich einige von ihnen am Fabriktor zusammen, und wenn sie mich zu Gesicht bekamen, fingen sie an, «Näher mein Gott zu dir» zu singen. Erst war mir das sehr unangenehm, und ich scheute mich, durchs Tor zu gehen, aber schliesslich hatte ich ja allerhand Erfahrung im Umgang mit Männern und allmählich bekam ich sie auf meine Seite, so dass es mir wirklich recht gut ging. Ich hatte immer genügend Fische zum Verpacken. Stets hatten unsichtbare Hände sauberes Zeitungspapier auf meinem Schemel ausgebreitet. Sie sorgten für mich auf alle mögliche Art und Weise, und ich möchte wiederum betonen, dass dies durchaus nichts mit mir zu tun hatte. Ich wusste nicht, wie diese Männer und Frauen hiessen. Ich hatte ihnen im Leben keine Freundlichkeit erwiesen, und doch waren sie einfach nett zu mir, und ich habe ihnen das nie vergessen. Ich lernte, sie sehr gern zu haben, und wir wurden gute Freunde. Ich habe es jedoch nie fertiggebracht, mich mit den Sardinen anzufreunden. Wenn ich schon Packerin sein sollte, dann war ich entschlossen, dass sich das auch finanziell lohnen sollte. Ich brauchte Geld für die Kinder und deshalb konzentrierte ich meine Gedanken auf das Packproblem. Ich beobachtete die anderen Packer. Ich studierte jede Bewegung, um Zeitverlust zu vermeiden, und innerhalb von drei Wochen war ich die beste Packerin in der Fabrik. Ich verarbeitete im Durchschnitt zehntausend Sardinen pro Tag und packte Hunderte von Büchsen. Fabrikbesucher wurden zu mir geführt, um mich zu beobachten, und dann musste ich den Preis für meine gute Arbeit zahlen und Bemerkungen hören wie: «Was macht eine Frau wie die in einer Fabrik?» oder «Sie sieht mir zu gut aus für solche Arbeit, aber wahrscheinlich taugt sie sonst nichts». «Sie wird schon irgend etwas ausgefressen haben, dass sie auf diese Art von Arbeit angewiesen ist». «Man darf sich nicht vom Schein trügen lassen, wahrscheinlich ist sie von der üblen Sorte». Das sind wörtliche Zitate. Ich kann mich noch erinnern, dass einer der Vorarbeiter der Fabrik einer Gruppe von Leuten zuhörte, die über mich in dieser Weise sprachen, und bemerkte, wie ich dabei zusammenzuckte. Die Bemerkungen waren besonders roh gewesen und mir zitterten vor Wut buchstäblich die Hände. Als diese Leute weg waren, kam er auf mich zu und sagte: «Machen sie sich nichts draus, Frau Evans, wir nennen sie hier den, im Schmutz verlorenen Edelstein'». Das entschädigte mich voll und ganz für alles andere, was über mich gesagt worden war. Ist es demnach zu verwundern, dass ich einen unwandelbaren und unabänderlichen Glauben an das Schöne und Göttliche im Menschen besitze? Wenn dies Leute gewesen wären, die mir irgendwie verpflichtet waren, dann wäre es etwas anderes; aber es kam bei allem eben nur die spontane Freundlichkeit der menschlichen Seele denen gegenüber zum Ausdruck, die sich in gleich schwieriger Lage befinden, wie sie selbst. Die Armen sind gewöhnlich freundlich zu den Armen.

Noch eine andere Geschichte möchte ich erzählen, welche diese

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.