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Die unvollendete Autobiographie, Seite 98 ff. (engl.)
vielleicht einen Tumor im Gehirn oder ich würde den Verstand verlieren, oder was es sonst noch an solchen Albernheiten geben mag, und ich war körperlich zu schwach, um diese Furchtzustände zu überwinden. Nachdem er ein Weilchen mit mir gesprochen hatte, stand er von seinem Schreibtisch auf, ging an den Bücherschrank, und holte sich ein dickes und gewichtiges Buch. Darin verwies er mich auf einen bestimmten Absatz und sagte: «Liebes Kind, lesen sie mal diese vier oder fünf Zeilen und vergessen sie ihre Befürchtungen». Ich las, dass Migräne niemals tödlich verläuft, dass sie keinen Einfluss auf die Mentalität des Patienten hat und dass ihr gewöhnlich Leute mit gutem, mentalem Gleichgewicht und gutem Denkvermögen zum Opfer fallen. Er war klug genug, um meine unausgesprochenen Befürchtungen zu erraten, und ich erwähne das hier für andere, die darunter leiden. Dann schickte er mich auf sechs Monate ins Bett und verordnete mir, andauernd zu nähen. Ich fuhr also nach Castramont zu meiner Tante Margaret zurück, in das alte Schlafzimmer, das ich so viele Jahre hindurch bewohnt hatte und schickte mich an, meiner Schwester eine Garnitur Unterwäsche anzufertigen - Unterröcke mit Volants und Zickzackstickerei, handgesäumt und mit Spitzen besetzt; Hosen mit Volants (die man zu jener Zeit nie erwähnte) und Korsettschoner, die es heute nicht mehr gibt und die so ausgestorben sind, wie die Männerzöpfe. Zu meinem eigenen Lob muss ich sagen, dass ich wundervoll nähen konnte. Jeden Tag durfte ich einmal aufstehen und ging in der Heide spazieren, und von Woche zu Woche ging es mir besser. Alle paar Tage erhielt ich Post von Walter Evans, der mir seit seiner Ankunft in Amerika ziemlich regelmässig schrieb.

KAPITEL III

Es fällt mir sehr schwer, über die folgenden Jahre zu schreiben, da ich nicht recht weiss, wie ich die nächste Phase meines Lebens behandeln soll. Zurückschauend bin ich mir darüber klar, dass mein Sinn für Humor vorübergehend versagte, und wenn das einem Menschen passiert, der gewöhnlich über das Leben und seine äusseren Umstände lachen kann, dann ist das recht bedauerlich. Wenn ich von «Humor» spreche, dann meine ich nicht Aufgelegtheit zu Scherzen, sondern die Fähigkeit, über sich selbst und die Ereignisse und Umstände zu lachen, wie sie sich im Verhältnis zur eigenen Ausrüstung und Veranlagung auswirken. Ich glaube nicht, dass ich wirklich Sinn für Scherze habe; die sogenannten «Comics» (komische Beilagen) in den amerikanischen Zeitungen verstehe ich einfach nicht, und ich kann nie einen Witz behalten; trotzdem habe ich Sinn für Humor, und es fällt mir durchaus nicht schwer, eine Zuhörerschaft - sei sie gross oder klein - zu stürmischem Gelächter zu bringen. Ich kann auch stets über mich selbst lachen, aber über die wenigen, jetzt folgenden Lebensjahre finde ich nichts Erheiterndes zu berichten und ich frage mich, wie ich diesen Abschnitt beschreiben kann, ohne dabei entweder schrecklich langweilig zu werden oder aber das traurige Bild einer unglücklichen Frau auszumalen. Denn das war ich wirklich. Es bleibt mir nichts übrig, als meine Geschichte so gut es geht fortzusetzen, mit all ihren Leiden und Schmerzen und Nöten, und dabei den Leser um Geduld zu bitten. Schliesslich war es bloss ein Zwischenakt zwischen zwei glücklichen Perioden von je 28 Jahren, deren letztere noch immer munter abläuft.

Bis 1907 hatte ich meine Schwierigkeiten und Nöte gehabt, aber sie lagen eigentlich nur auf der Oberfläche. Ich liebte meine Beschäftigung und hatte Erfolg dabei. Ich war von Menschen umgeben, die mich mochten und zu schätzen wussten, und soviel ich weiss, hatte es absolut keine Probleme zwischen mir und meinen Mitarbeitern gegeben. Ich wusste nicht, was es heisst, finanziell eingeschränkt zu sein. Ich konnte nach Belieben in Indien herumreisen oder, wenn ich wollte, nach England zurückkehren, ohne mir darüber auch nur einen Gedanken zu machen. Mit persönlichen Schwierigkeiten hatte ich eigentlich niemals zu kämpfen gehabt.

Jetzt aber folgte ein Zyklus von sieben Lebensjahren, in denen ich nichts als Schwierigkeiten kannte, die jeden Teil meiner Natur in Mitleidenschaft zogen. Ich trat in einen Lebensabschnitt, der mein Gedankenleben schwer belastete; ich sollte Situationen gegenüberstehen, die meine Gefühlseinstellung bis zur äussersten Grenze meiner Kraft in Anspruch nahmen, und auch im physischen Sinn gestaltete sich mein Leben äusserst hart. Ich glaube, solche Epochen sind im Leben aller werktätigen Jünger vonnöten. Sie sind hart, wenn man sie durchmachen muss, aber ich bin fest überzeugt, dass, wenn man sie mit dem vollen Wissen und der vollen Entschlusskraft der Seele durchlebt, man unvermeidlich auch die Kraft findet, die Umstände zu meistern. Das Resultat ist dann stets (in meinem Leben und im Fall aller derer, die geistig zu wirken bemüht sind) eine bessere Befähigung, menschlichen Bedürfnissen gerecht zu werden und den anderen Weggenossen auf unserer Pilgerschaft «eine starke Hand im Dunkeln» darzubieten. Ich habe einer meiner Töchter zur Seite gestanden, als sie eine schreckliche Erfahrung durchmachen musste und ich sah, dass sie sich - nach fünf Jahren geduldigen Leidens - zu einem Mass von Nützlichkeit hindurchrang, wie es andernfalls unmöglich gewesen wäre; sie ist immer noch jung und hat eine nützliche und schöpferische Zukunft vor sich. Ich wäre dazu nicht imstande gewesen wenn ich nicht vorher selbst durchs Feuer gegangen wäre.

Als die mir verordnete sechsmonatige Bettruhe vorüber war, wurden Vorbereitungen zu meiner Heirat getroffen. Das wenige Geld, das ich besass, wurde vermögensrechtlich so festgelegt, dass Walter Evans es nicht angreifen konnte, falls er es gewollt hätte. «Tante Alice» sandte ihm das nötige Geld, um sich auszustaffieren und nach Schottland zu kommen, um mich abzuholen. Ich lebte damals bei meiner Tante Maxwell in Castramont. Die Trauung wurde in der Privatkapelle im Hause eines Freundes durch einen Herrn Boyd-Carpenter vollzogen. Ein anderer Pfarrer, Walliam La Trobe-Bateman, der älteste Bruder meines Vaters, führte mich zum Altar.

Unmittelbar nach der Hochzeit fuhr ich zu Walter Evans Verwandten im Norden Englands auf Besuch. Eine angeheiratete Verwandte von mir, die auf meiner Hochzeit war und mit halb England verwandt ist, nahm mich beim Abschied auf die Seite und sagte: «Nun Alice, du hast diesen Mann geheiratet und besuchst jetzt seine Angehörigen. Du wirst finden, dass sie nicht Leute von deiner Art sind, und es wird deine Pflicht sein, ihnen trotzdem das Gefühl zu geben, dass du sie dafür hälst. Sei um Himmelswillen nicht hochnäsig». Mit diesen Worten führte sie mich in einen Lebensabschnitt ein, in dem ich Kaste und soziale Stellung hinter mir liess und plötzlich die Menschheit entdeckte.

Ich gehöre nicht zu den Leuten, die da glauben, dass bloss die Proletarier gut und recht, und dass die Mittelklassen das Salz der Erde sind, während die Aristokratie nutzlos ist und abgeschafft werden sollte. Andererseits schliesse ich mich auch nicht der Ansicht an, dass nur die Gebildeten die Welt retten können, obwohl das eine gesündere Einstellung ist, weil ja die Gebildeten aus allen Klassen hervorgehen. Ich habe Leute aus den sogenannten unteren Schichten kennengelernt, die furchtbar hochnäsig waren. Ich habe sie in ähnlich boshafter Form auch bei der Aristokratie angetroffen. Die Sittenstrenge und konservative Haltung der Mittelklassen ist das Zünglein an der Waage, das jede Nation im Gleichgewicht hält. Die Stosskraft und die Auflehnung der unteren Klassen sorgen für das Wachsen eines Volkes, während die Tradition, die Kultur und das "noblesse oblige" - Gefühl der Aristokratie ein wertvolles Gut für jede Nation ist, die eine Aristokratie besitzt. All diese Faktoren können am rechten Platz gesund und nützlich sein, aber alle können in gleicher Weise missbraucht werden. Eine konservative Richtung kann sich zur gefährlichen Reaktion entwickeln; eine gerechtfertigte Auflehnung wird leicht zur fanatischen Revolution, und das bei den «oberen Klassen» so häufig vorhandene Gefühl der Verantwortung und Überlegenheit, kann zu verdummender Bevormundung ausarten. Es gibt keine Nation ohne Klassenunterschiede. In Grossbritannien mag es eine Geburtsaristokratie geben, aber in den Vereinigten Staaten besteht eine Geldaristokratie, die ebenso unterschiedlich, exklusiv und von starren Schranken umgeben ist. Wer soll die Frage entscheiden, was am besten ist und was nicht? Ich war in einem sehr starren Kastensystem aufgewachsen, und bislang hatte in meinem Leben kein Anlass bestanden, unter gleichen Bedingungen mit Leuten anderer Schichten zusammenzukommen. Ich hatte noch nicht gelernt, dass es hinter allen Klassenunterschieden des Westens und den Kastensystemen des Orients eine Einheit gibt, die wir Menschheit nennen.

Jedenfalls machte ich mich mit meinen schönen Kleidern, meinen reizenden Schmucksachen, meiner gepflegten Stimme und meinen guten Manieren auf den Weg zu Walter Evans Familie, ohne viel nachzudenken oder die Situation irgendwie einzuschätzen. Selbst die alten Familienangestellten trauten der Sache nicht. Potter, der alte Kutscher, fuhr Walter Evans und mich nach der Hochzeit zum Bahnhof. Ich sehe ihn noch in seiner Livree, mit einer Kokarde am Hut. Er kannte mich seit meiner frühesten Kindheit und als wir am Bahnhof ankamen, stieg er vom Bock, nahm meine Hand und sagte: «Miss Alice, ich mag ihn nicht und es wird mir schwer, ihnen das zu sagen, aber wenn er sie nicht richtig behandelt - kommen Sie einfach zu uns zurück. Schreiben sie mir bloss eine Zeile und ich hole sie an der Bahn ab». Damit fuhr er ohne ein weiteres Wort ab. Der Bahnhofsvorsteher der kleinen schottischen Station hatte bis Carlisle einen Wagen für uns reserviert, und als er mir beim Einsteigen half, sah er mir in die Augen und sagte: «Er ist nicht gerade derjenige, den ich für sie ausgesucht hätte, Miss Alice, aber ich hoffe, sie werden mit ihm glücklich sein». Nichts davon machte den geringsten Eindruck auf mich. Heute weiss ich, dass ich eine Gruppe von sehr besorgten Verwandten, Freunden und Bedienten zurückliess, aber damals kam mir das durchaus nicht in den Sinn. Ich hatte getan, was ich für recht hielt und dabei ein Opfer gebracht, und jetzt erntete ich meinen Lohn. Die Vergangenheit lag hinter mir. Meine Tätigkeit unter den Soldaten war beendet. Vor mir lag eine wundervolle Zukunft mit dem Mann, den ich zu lieben glaubte, in einem neuen und wundervollen Land, denn wir waren auf dem Weg nach Amerika.

Bevor wir nach Liverpool fuhren, besuchten wir die Verwandten meines Mannes. Sie waren nett, freundlich, gut und ehrbar, aber ich hatte noch nie mit Leuten dieser Klasse bei Tisch gesessen, oder in einem Haus dieser Art geschlafen, meine Mahlzeiten in der «guten Stube» eingenommen oder in einem Haushalt ohne Bediente gelebt. Ich hatte Angst vor ihnen, und sie hatten noch grössere Angst vor mir, obwohl sie in ihrer Art stolz darauf waren, dass Walter es zu so etwas gebracht hatte. Um Walter Evans gerecht zu werden, möchte ich an dieser Stelle gleich folgendes einschalten: Nachdem wir uns getrennt hatten und er auf eine unserer grossen Universitäten gegangen war, um dort weiterzustudieren, erhielt ich vom Rektor der Universität einen Brief, in dem er mich bat, zu Walter zurückzukehren. Er, ein sehr alter und erfahrener Mann, bat mich darum, weil er, wie er sagte, im Lauf seiner langjährigen Erfahrung mit Tausenden von jungen Leuten noch keinem begegnet war, der - geistig, physisch und mental - so begabt war, wie Walter Evans. Es war also nicht erstaunlich, dass ich mich in ihn verliebt und ihn geheiratet hatte. Alle Anzeichen waren vorteilhaft, abgesehen von seiner sozialen Herkunft und seiner finanziellen Lage; damals aber, als ich nach Amerika ging und er in Kürze in der Episkopalkirche ordiniert werden sollte, schien das nichts auszumachen. Wir würden uns schon mit seinem Gehalt und meinem kleinen Einkommen durchschlagen.

Wir fuhren von England direkt nach Cincinnati im Staat Ohio, wo mein Mann am Lane Theological Seminary studierte. Ich machte sofort mit, besuchte mit ihm zusammen die verschiedenen Kurse und bestritt mit meinem Geld unseren Lebensunterhalt und alle Ausgaben. Im alltäglichen Eheleben musste ich bald feststellen, dass wir keine gemeinsamen Berührungspunkte hatten, mit Ausnahme unserer religiösen Ansichten. Er wusste wirklich nichts von meiner Herkunft, und ich wusste noch weniger von seiner. Wir beide gaben uns damals die grösste Mühe, unsere Ehe glücklich zu gestalten, aber es gelang uns nicht. Ich denke, ich wäre vor Elend und Verzweiflung gestorben, wenn da nicht die Negerfrau gewesen wäre, die das mit dem Seminar verbundene Logier- und Kosthaus verwaltete, wo wir im obersten Stock ein Zimmer hatten. Sie hiess Frau Snyder, und sie nahm sich meiner sogleich an. Sie pflegte mich, wenn ich krank war, und verhätschelte und bemutterte mich; sie schimpfte mich aus und trat für mich ein, wo sie nur konnte, aber aus irgendeinem Grund konnte sie Walter Evans nicht leiden und sie machte sich ein Vergnügen daraus, ihm das auch zu sagen. Sie sorgte dafür, dass ich das Beste von allem hatte, was zu beschaffen in ihrer Macht lag. Ich liebte sie, und sie war meine einzige Vertraute.

Damals kam ich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Rassenproblem in Berührung. Ich fühlte keinerlei Abneigung gegen die Neger, ausser dass ich nicht an Mischehen zwischen Weissen und Negern glaubte, weil sie für beide Teile niemals glücklich zu verlaufen schienen. Ich stellte mit grösstem Erstaunen fest, dass wir in der amerikanischen Verfassung für die Gleichheit aller Menschen einstehen, dass wir aber (durch Wahlsteuern und schlechte Schulbildung) dafür sorgten, dass der Neger nicht gleichgestellt war. Im Norden sind die Verhältnisse besser als in den Südstaaten, aber das Negerproblem ist etwas, was das amerikanische Volk einmal zu lösen haben wird. Die Verfassung hat es bereits

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.