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Die unvollendete Autobiographie, Seite 92 ff. (engl.)
zurückzuschicken, und dort sollte dann Elise Sandes weiter über mich entscheiden. Ich war zu krank, um dagegen Einspruch zu erheben und war an dem Punkt angelangt, wo es mir gleich war, ob ich lebte oder starb. Ich hatte das Soldatenheim in Ranikhet geschlossen, und soweit mir bekannt, waren die Bücher in Ordnung. Ich hatte bis zum Schluss versucht, religiöse Versammlungen abzuhalten, aber ich glaube, ich hatte meinen Schneid dazu verloren. Ich entsinne mich bloss noch der ungewöhnlichen Liebenswürdigkeit eines Obersten Leslie, der meinen Umzug von Ranikhet ins Flachland überwachte. Ich musste im Wagen fahren; ich musste mich auf dem Rücken eines Mannes über einen reissenden Giessbach tragen lassen; dann musste ich meilenweit mit einem zweirädrigen Karren befördert werden und dann wieder einen anderen Wagen nehmen, bis ich den Zug nach Delhi erreichte. Neu Delhi gab es damals noch nicht. Er sorgte für alles - Kissen, verschiedene Bequemlichkeiten, Verpflegung und was ich sonst nur irgendwie nötig hatte. Mein persönlicher «Durzi» (Schneider) beschloss, mich auf eigene Kosten bis Bombay zu begleiten, bloss weil er um mich besorgt war. Er und mein Hausdiener bemühten sich um mich, und ich habe ihre Freundlichkeit und zärtliche Fürsorge nie vergessen.

Bei meiner Ankunft in Delhi teilte mir der Stationsvorsteher mit, dass der Generaldirektor von Bombay aus einen Salonwagen für mich geschickt habe. Wieso er wusste, dass ich krank war, entzieht sich meiner Kenntnis, aber er war einer von den fünf Männern, die ich bereits im Zusammenhang mit meiner ersten Ausreise erwähnt habe. Ich habe ihm nie dafür gedankt, aber ich war sehr froh darüber.

Von meiner Reise von Indien nach Irland blieben mir nur zwei Begebenheiten in Erinnerung. Die eine war unsere Ankunft in Bombay und die Fahrt zum Hotel. Ich weiss noch, wie ich auf mein Zimmer hinaufging und mich aufs Bett legte, zu müde, um auszupacken oder mich auch nur zu waschen. Dann erinnere ich mich erst wieder, als ich siebzehn Stunden später aufwachte und Miss Schofields Gesicht an der einen Seite des Bettes und den Arzt an der anderen entdeckte. Diese Art von Langschläferei habe ich mir noch ein oder zwei andere Male im Leben geleistet, wenn ich allzu abgespannt war. Zweitens ist mir in Erinnerung, wie ich an Bord des P. & O. Dampfers gebracht wurde und dort zu meinem Entsetzen und meiner Scham vor lauter Schwäche und Nervenabspannung zu weinen anfing. Ich weinte ununterbrochen auf dem Schiff, ich weinte bei den Mahlzeiten, ich weinte an Deck, und als ich in Marseille ausstieg, strömten mir die Tränen herunter. Ich weinte im Zug nach Paris. Ich weinte dort im Hotel; ich weinte im Zug nach Calais und während der Überfahrt nach England. Ich weinte ununterbrochen und verzweifelt und konnte trotz allen Bemühens einfach nichts dagegen tun. So weit ich mich erinnern kann, habe ich nur zweimal lachen müssen, und da habe ich mich wirklich halb totgelacht. Wir stiegen in Avignon zum Essen aus und gingen in ein dortiges Restaurant. Ein sehr nervöser Kellner kam herein. Er warf mir einen Blick zu und liess wohl drei Dutzend Teller einzeln auf die Erde fallen - ich glaube bestimmt nur deshalb, weil ich da sass und heulte und heulte. Der andere Vorfall, der mich zum Lachen brachte, ereignete sich auf einer kleinen Nebenstation in Frankreich, wo der Zug zehn Minuten Aufenthalt hatte. Eine Dame aus unserem Abteil stieg aus, um die Damentoilette aufzusuchen. Die Züge waren zu jener Zeit noch nicht so bequem eingerichtet wie heute und es fehlte da an manchem. Die Damentoilette beehrten wir mit dem Namen WC. Als sie wieder im Zug war, konnte sie sich vor Lachen nicht halten, und als sie wieder zu Atem kam, sagte sie: «Wie sie wissen, ging ich in die Wesleyan Chapel (Wörtlich Wesleyische (d.h. Methodisten-)Kappelle; das Wort Chapel bedeutet im vulgären Englisch auch Abort (Anm. d. Übersetzers). Sie war nicht sehr sauber und sah ziemlich übel aus, aber das kann man von solchen Kapellen ja nicht anders erwarten. Was mich aber aus meiner Fassung brachte, war dieser komische, französische Wärter, der ungeduldig vor der Türe stand, um mir die Hymnenblätter zu reichen». Ich hörte eine Zeitlang zu weinen auf und musste mich kranklachen; Miss Schofield dachte, ich hätte hysterische Krämpfe.

Endlich kamen wir nach Irland, und ich war wieder bei meiner geliebten Miss Sandes. Ich weiss noch, wie erleichtert ich mich fühlte und glaubte, dass jetzt alle meine Nöte vorüber seien. Sie würde die Situation bestimmt verstehen und meine Leistungen anerkennen. Zu meiner grössten Überraschung stellte ich fest, dass sie meine heldenhafte Aufopferung als eine vollkommen unnötige Geste betrachtete. Nach ihrer Auslegung, die wohl auch stimmte, war ich nur ein verstörtes Kind, das hinter einer dramatischen Rolle Schutz suchte. Natürlich war sie von mir schwer enttäuscht. Ich hatte gerade den Fehler begangen, der bei ihren jungen Mädchen nie vorkam. Sie hatte auf Jahre hinaus auf meine Mithilfe gerechnet und sogar Vorkehrungen getroffen, mir trotz meiner Jungend finanzielle Vollmachten zu übertragen. Sie glaubte, ich könne ihr Werk fortführen, weil sie, wie sie sagte, meinen Sinn für Humor schätzte, weil sie meinen grundanständigen Charakter und mein «geistiges Gleichgewicht» erkannte und weil sie ausserdem wusste, dass ich im innersten Wesen wahrheitsliebend war. Ja, sie glaubte sogar, wie sie mir auf einem Spaziergang auf einem Feldweg in Irland mitteilte, dass meine Wahrheitsliebe mich sehr leicht einmal in Schwierigkeiten bringen könnte, und dass ich noch zu lernen hätte, dass die ungeschminkte Wahrheit nicht unbedingt ausgesprochen werden muss. Stillschweigen sei manchmal nützlicher.

Ich hatte also von meinem Standpunkt aus das gesamte Werk, einschliesslich Miss Schofield, im Stich gelassen. Allmählich hatte ich zu weinen aufgehört und war froh, bei ihr zu sein. Ich sehe noch das Wohnzimmer vor mir, in der Pension des kleinen Badeortes in der Nähe von Dublin, wo sie Theo Schofield und mich getroffen hatte. Sie hatte sich erst von Theo über mich erzählen lassen und Theo liebte mich. Dann liess sie mich selbst meine Geschichte erzählen die Geschichte einer verstörten, gemarterten Heiligen; als solche betrachtete ich mich wenigstens damals. Sie schickte mich an dem Abend zu Bett und sagte, sie würde mich am nächsten Morgen wiedersehen. Nach dem Frühstück sagte sie mir, sie sehe keinen wirklichen Grund, warum ich nicht heiraten sollte, wenn ich das nun einmal vorhätte, vorausgesetzt, dass man die ganze Sache diskret behandelte. Dazu gehörte das, was die uralte indische Schrift, die Bhagavad Gita, «Geschick im Handeln» nennt. Sie liebte mich und streichelte mich und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich war viel zu müde und zu abgespannt, um mir unter "Geschick im Handeln" etwas vorstellen zu können. Ich war einfach entsetzt als mir allmählich klar wurde, dass man mein wunderbares, heldenhaftes, geistiges Opfer als durchaus unnötig betrachtete. Ich fühlte mich verlassen und stand vor einer grossen Enttäuschung. Ich steigerte mich während des Tages in einen furchtbaren Zustand hinein; ich kam mir dumm und idiotisch vor. Dann liess ich diese beiden geliebten, älteren Damen allein über mich und meine Pläne weitersprechen und ging draussen in der kühlen Nachtluft spazieren. Ich hatte so genug von allem, war so entmutigt, so innerlich krank, dass ich nicht mehr weiss, was weiter geschah, ausser dass ein Polizist mich aufhob. Er stellte mich auf die Beine und schüttelte mich (irgendwie schienen die Leute mich immer gern zu schütteln), dann sah er mich mit tiefstem Misstrauen an und sagte: «Was denken sie sich eigentlich, hier herumlaufen und in Ohnmacht fallen. Es ist neun Uhr abends und ein Glück dass ich sie sah. Jetzt aber marsch nach Hause». Ich schlich wieder heim, durchfroren und bis auf die Haut durchnässt vom Regen und von der Gischt, die von der See her über den Landungssteg fegte, auf dem ich anscheinend eine ganze Weile lang gelegen hatte. Heulend erzählte ich Elise und Theo die Geschichte und wurde dann von ihnen liebevoll ins Bett gepackt. Ich denke, ich lernte daraus und bekam etwas mehr Sinn für relative Wichtigkeit; ich verstand jetzt auch besser die tragische Einstellung junger Leute zu den Vorgängen des Lebens sowie ihren natürlichen Hang zur Übertreibung.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Edinburgh zu meiner geliebten Tante Margaret Maxwell. Dort verschärften sich meine Probleme, nicht durch Tantes Besorgtheit um mich, sondern durch die Ankunft eines sehr netten und liebenswürdigen Mannes, der mir auf dem weiten Weg von Indien gefolgt war, um mich zu bitten, ihn zu heiraten. Obendrein kam es zu einer weiteren Komplikation. Am nächsten Morgen erhielt ich einen Brief von einem Armeeoffizier, in dem er mir seine Anwesenheit in London mitteilte und mich fragte, ob ich bereit wäre, ihn sofort zu heiraten. So stand ich also da, mit einer fürsorglichen Tante, zwei äusserst besorgten Mitarbeiterinnen und drei Männern an der Hand. Ich konnte mit meiner Tante über Walter Evans sprechen, und tat es auch, indem ich ihr die Situation rückhaltlos darstellte. Die anderen beiden Männer wagte ich nicht zu erwähnen, denn bei ihrer konservativen Einstellung würde sie bestimmt gedacht haben, es müsste mit mir schon ernstlich schlimm stehen, wenn ich allen drei Männern zu gleicher Zeit Hoffnungen gemacht hätte, - was durchaus nicht der Fall war. Um mir selbst gerecht zu werden, darf ich sagen, dass ich nie kokettierte.

Es blieb mir bloss eine Woche in Edinburgh, bevor ich nach London musste, da meine Rückfahrt nach Bombay bereits vor meiner Abreise aus Indien gebucht worden war. Ich stand vor der Frage: an wen könnte ich mich um Rat wenden? Die Antwort fiel mir leicht. Ich ging ins Diakonissenhaus in Edinburgh und fragte nach der Oberin aller Diakonissen der schottischen Kirche. Sie war eine Schwester von Sir William Maxwell auf Schloss Cardoness und eine Schwägerin der Tante, bei der ich zu Besuch war. Ich nannte sie stets «Tante Alice» und verehrte sie, weil sie über alles Enge und Kleinliche erhaben war. Ich sehe sie noch, wie sie in ihrer Diakonissentracht gross und stattlich mir entgegentrat, um mich in ihrem schönen Wohnzimmer zu begrüssen. Ihre Schwesterntracht war aus stark gerippter, brauner Seide und dazu trug sie gewöhnlich echte Spitzenkragen und Manschetten, die ich für sie angefertigt hatte. Ich war eine sehr geübte Spitzenarbeiterin. Ich hatte irische Spitzen klöppeln gelernt, als ich noch ein ziemlich junges Mädchen war, und sie waren wirklich wunderhübsch. Aus Dankbarkeit dafür, dass sie mir immer so viel Verständnis entgegenbrachte, hatte ich ihr einige Jahre lang Kragen und Manschetten genäht. Sie war nie verheiratet gewesen, kannte aber das Leben und liebte die Menschen. Ich erzählte ihr die Geschichte von Walter Evans sowie von dem Major in London und dem albernen, reichen Idioten, der mir nach Hause gefolgt war und sogar in diesem Augenblick vor dem Haus stand. Ich sehe sie noch zum Fenster treten und ihn lachend durch ihre Spitzengardinen hindurch zu beäugen. Wir unterhielten uns zwei Stunden lang, und sie sagte mir, ich sollte ihr nur alles überlassen, sie würde sich die Sache überlegen und Gott für mich um Rat bitten. Sie versprach, alles zu tun, was sie mit gutem Gewissen zur Lösung meines Problems beitragen könnte, da ich selbst zu krank sei und es mir deshalb an eigener Urteilskraft und gesundem Menschenverstand mangele. Dank ihrer geschickten Behandlung fühlte ich mich entspannt und kehrte erleichtert zu meiner Tante zurück. Wenige Tage später ging ich in London an Bord und trat in Begleitung von Gertrude Davies-Colley die Rückreise nach Indien an. Sie hatte es übernommen, bei mir zu bleiben und für mich zu sorgen, da ich offensichtlich zu krank war, um allein gelassen zu werden.

Ich nahm also meine alte Tätigkeit wieder auf und hatte keine Ahnung, wie sich mein Leben weiterhin entwickeln würde; ich nahm mir vor, von einem Tag in den anderen zu leben und mich nicht um die Zukunft zu bekümmern. Ich vertraute dem Herrn und meinen Freunden und wartete einfach ab.

Inzwischen setzte sich «Tante Alice» mit Walter Evans in Verbindung. Seine Dienstzeit war nahezu abgelaufen, und seine Heimreise war bereits gebucht. Sie liess ihn auf ihre Kosten nach den Vereinigten Staaten fahren und dort einen theologischen Kursus durchmachen, und dann sollte er Pfarrer in der Episkopalkirche werden, die das amerikanische Gegenstück zur Anglikanischen Kirche (Church of England) darstellt. Sie tat das, um ihm eine soziale Stellung zu verschaffen, die es ihm am Ende leichter machen würde, mich zu heiraten. Sie machte aus allem durchaus keinen Hehl und hielt nicht nur mich über alle Massnahmen auf dem Laufenden, sondern liess auch Miss Sandes wissen, was sie tat. Soweit ich selbst und meine Tätigkeit bei der Armee in Frage kam, wurde die ganze Sache jedoch mit grösstem Stillschweigen behandelt, und als ich schliesslich Indien verliess, da hiess es einfach, dass ich nach England zurückkehrte, um einen Pfarrer zu heiraten.

Ich fuhr nach Umballa zurück und arbeitete dort den ganzen Winter und darauffolgenden Sommer hindurch. Dann ging ich nach Chakrata, um das dortige Soldatenheim zu leiten. Meine Gesundheit verschlechterte sich ständig und meine Migräne verursachte mir immer häufigere Kopfschmerzen. Die Arbeit war recht anstrengend und ich erinnere mich dankbar an die Güte und Freundlichkeit zweier Männer, die für mich sehr viel taten, und ich frage mich oft, ob ich wohl ohne ihre Hilfe heute noch am Leben wäre. Einer davon war Oberst Leslie, dessen Töchter in meinem Alter und mit mir befreundet waren. Ich war oft in seinem Haus und er sorgte in rührender Weise für mich. Der andere war Oberst Swan, ein leitender Sanitätsoffizier im dortigen Bezirk, bei dem ich in ärztlicher Behandlung war. Er tat sein Möglichstes für mich und blieb meinetwegen oft stundenlang auf, um für mich zu sorgen; aber ich wurde so krank, dass die beiden Männer schliesslich die Sache selbst in die Hand nahmen und meinen Leuten und Miss Sandes kabelten, dass sie mich mit dem nächsten Schiff nach England zurückschicken würden.

Als ich wieder in London war, suchte ich Sir Alfred Schofield, den Bruder des Theo Schofield, auf, der damals ein sehr bekannter Neurologe und praktischer Arzt in London war. Ich legte mein Schicksal ganz in seine Hand. Er war ein prächtiger Mensch und verstand mich durchaus. Ich ging zu ihm, weil mich meine Kopfschmerzen mit schrecklicher Angst erfüllten. Ich bildete mir ein, ich hätte

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.