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Die unvollendete Autobiographie, Seite 219 ff. (engl.)
europäischen Kontinent herumgekommen und habe zugehört, was die einzelnen Menschen voneinander sagen und wie sie sich verachten und gegenseitig lächerlich machen; und da ich das vielleicht besser beobachtet habe als die meisten Reisenden, so wollte ich, dass meine Töchter ein Gefühl für die Einheit der Menschen bekämen. Ich denke, sie haben einen weiteren Gesichtskreis als der Durchschnitt ihrer Landsleute, und das verdanken sie ihren Reisen; und das verdanke auch ich der Tatsache, dass ich nicht nur im horizontalen Sinn weit herumgekommen bin, sondern dass ich auch in vertikaler Hinsicht die soziale Leiter von oben bis unten kennenlernte. Menschen gern zu haben ist sehr erzieherisch, und mir ist die Liebe zu den Mitmenschen angeboren. Einer der besten Menschen, die ich je kennenlernte, war der Sohn eines Kaisers. Die erste und liebste Freundin, die ich vor fünfunddreissig Jahren bei meiner Ankunft in den Staaten kennenlernte war eine Negerin; sie beide haben für mich in meinem Bewusstsein die gleiche Bedeutung, und an beide denke ich mit gleicher Zuneigung zurück.

Eins habe ich bestimmt festgestellt, nämlich dass sich die Mädchen in jedem Kreis zu bewegen und in jeder Situation zurechtzufinden wissen, obwohl sie nur die öffentlichen Schulen in Amerika absolviert haben. Wenn einige Veranlagung vorhanden ist und ein Elternhaus, in dem man interessante Dinge schätzt und menschliche Werte betont, dann gibt es für mich kein besseres Ausbildungssystem als eine Erziehung in öffentlichen Schulen, wie sie hier in den Staaten üblich ist.

Im Frühjahr 1931 entschlossen wir uns, Olga Fröbes Einladung zu folgen und sie für einige Monate in ihrem Haus am Lago Maggiore zu besuchen. Man kann sich leicht vorstellen, welche Aufregung das Planen, das Einkaufen von Koffern, Kleidern und die Vorfreude der Mädchen auf all das Neue verursachten. Sie waren niemals in ihrem Leben über die Landesgrenzen hinausgekommen, ausser Dorothy, die einmal in Hawaii gewesen war. Alice Ortiz gab uns neue Beweise ihrer üblichen Freigebigkeit und sorgte dafür, dass wir alle gebührend eingekleidet waren; überdies bezahlte sie alle Reisekosten.

Wir wählten eins von den kleineren Schiffen, das direkt von New York nach Antwerpen fuhr und ich muss gestehen, dass ich das Bordleben mit drei sehr lebenslustigen und ausgelassenen Mädchen ziemlich anstrengend fand. Auf sie aufzupassen, war keine Kleinigkeit; und sie jeden Abend rechtzeitig ins Bett zu kriegen, war auch nicht eben ein Vergnügen. Kein Mädchen, das sich gerade beim Tanz mit einem Offizier amüsiert, lässt sich gern von der Mutter stören und daran erinnern, dass es Zeit zum Zubettgehen ist. Sie waren sehr artig, aber auch sehr erregt von dem ganzen Bordbetrieb. Sie wussten von allen Mitreisenden, wer sie waren, wo sie herkamen und wie sie hiessen, und alle drei waren sehr beliebt.

Vor einigen Jahren stiess ich auf ein Bündel Sachen, und als ich es aufrollte, entdeckte ich drei hübsche Ballkleider, die ich für die Mädchen an Bord des Schiffes gemacht hatte. Die Idee war allerdings durchaus nicht originell, denn sie waren der amerikanischen Flagge nachgemacht und bestanden aus dunkelblauen Röcken mit weissen Streifen und weissen Jäckchen mit roten, fünfzackigen Sternen. Ich lehnte es ab, achtundvierzig Sterne an jedes Jäckchen zu nähen, denn das wäre zuviel Arbeit gewesen, aber der allgemeine Eindruck war doch höchst patriotisch und farbenfroh.

Ich werde nie den Tag vergessen, als wir die Schelde hinauffuhren und in Antwerpen anlegten. Die Mädchen hatten natürlich noch nie eine ausländische Stadt zu Gesicht bekommen. Alles schien ihnen neu und fremdartig, von der Droschkenkutsche, mit der wir ins Hotel fuhren, bis zu den Daunenkissen auf allen Betten. Wir gingen ins Hotel «Des Flandres» und verbrachten ein paar sehr vergnügte Tage in Antwerpen. Die bunten Tischtücher im Van Viordinaire, die ausländische Küche und der Cafe au lait waren ein Ereignis für die Mädchen und für mich eine Erinnerung an frühere Zeiten.

Eine Freundin hatte die Überfahrt mit uns zusammen gemacht, um mit uns in Ascona zu sein, aber sie verliess uns bald in Antwerpen, da sie mit ihrer Tochter den Rhein hinunterfahren wollte. Sie hatte eine ganz andere Vorstellung von einer vergnüglichen Auslandsreise, als Foster und ich. Gleich morgens pflegte sie mit ihrer Tochter an einem Arm und dem Baedeker im anderen herunterzukommen und mich zu fragen: «Alice, was werdet ihr euch heute ansehen? Hier ist eine Statue mit drei Sternen im Reiseführer, und in der Kathedrale gibt es Rubensgemälde und allerhand anderes zu sehen. Was habt ihr zuerst vor?» Zu ihrer grossen Überraschung sagte ich ihr, wir würden nichts dergleichen unternehmen, da wir nicht daran interessiert wären, Statuen längst verstorbener Kriegshelden oder jede Kirche anzusehen, die man hätte besuchen können.

Ich sagte ihr, meine Hauptabsicht sei die, die Mädchen etwas von der Atmosphäre des Landes in sich aufnehmen zu lassen und ihnen zu zeigen, wie die Leute aussehen, wie sie wohnen und was sie an den verschiedenen Tageszeiten treiben. Wir wollten also bloss herumspazieren, in kleinen Cafes unter den Sonnendächern sitzen und Kaffee trinken, bloss dasitzen und die Leute beobachten und ihnen zuhören und uns unterhalten. Das taten wir dann auch, während sie ihre eigenen Wege ging. Ich habe meine Töchter nie in Galerien mitgenommen, über Kirchen gesprochen oder die üblichen Dinge getan, die der Durchschnittsreisende unternimmt. Wir bummelten durch die Strassen, sahen uns Gärten an, machten Spaziergänge in die Vororte. Nach ein paar Tagen wussten die Mädel eine ganze Menge über die Stadt, ihre Umgebung, ihre Bewohner und ihre Geschichte. Wir kauften keine Andenken, machten aber Aufnahmen, kauften Ansichtskarten und fanden heraus, dass die Menschen genauso waren wie wir.

Von Antwerpen aus fuhren wir in die Schweiz, nach Locarno, soweit wie wir mit der Bahn fahren konnten; dort holte uns Olga ab und brachte uns in ihre schöne Villa, wo wir uns einige Wochen aufhielten. Diese Bahnreise fanden die Mädel herrlich, aber mich erschöpfte sie. Wir fuhren mit dem «blauen Zug» durch den Simplon und das Centovalli.

Die Schönheit der italienischen Seen lässt sich unmöglich beschreiben. Dieser Lago Maggiore, an dessen Ufer Olgas Villa lag, ist einer der schönsten und grössten der italienischen Seen. Teilweise liegt er auf Schweizer Gebiet im Kanton Tessin, aber grösstenteils in Italien. Der See ist tiefblau, und die kleinen Dörfchen liegen sehr malerisch an den Berghängen und erstrecken sich bis zum Wasser hinunter. Ich kenne nichts Schöneres als die Aussicht, die man von Ronco aus nach beiden Seiten auf den See hat. Ich finde einfach keine Worte, um diese Schönheit zu beschreiben, aber ich werde sie ewig in Erinnerung behalten. Solche Bilder stellt man sich gern in Augenblicken der Ermattung und Enttäuschung vor, und doch lagen hinter all dieser Schönheit auch Laster und Verbrechen längst entschwundener Tage.

Diese Gegend war einmal der Hauptort der Schwarzen Messe in Mitteleuropa gewesen, und Anzeichen dafür waren noch auf den Landstrassen zu finden. Die kleinen Dörfer der Umgebung waren von ihren Bewohnern hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen verlassen worden, und es hatten sich dort Gruppen aus Deutschland und Frankreich angekauft, deren Absichten und Anschauungen alles andere als anständig und einwandfrei waren. Die Jahre kurz vor dem Krieg war es besonders in Deutschland sehr abscheulich zugegangen. Es blühten damals alle Arten von Lastern, und viele von den Leuten, welche diesen unerwünschten Gepflogenheiten frönten, hatten sich während des Sommers an die italienischen Seen verzogen. Die Gegend wird später einmal vom Wust gereinigt werden, und es wird sich eine wahrhaft geistige Tätigkeit entwickeln; aber wir hatten es damals noch mit dem Geist des Bösen, der diese Gegend durchdrungen hatte, und mit den sonderbar dekadenten und widerwärtigen Leuten zu tun, die am Ufer des Sees lebten.

Sobald ich herausfand, was dort los war und wieviel Böses sich hinter der äusseren Schönheit verbarg, setzte ich mich zu den Mädchen hin und klärte sie über alles auf. Ich wollte nicht, dass sie sich in ihrer Unwissenheit in Gefahr begeben sollten und zeigte ihnen die verschiedenen Typen von Leuten, die ganz deutlich dieser unerfreulichen Gattung angehörten. Ich verbrämte die Tatsachen nicht mit schönen Worten, sondern sagte ihnen glatt heraus, worum es sich handelte, und verschwieg weder Homosexualität noch andere Verirrungen, so dass sie unversehrt mit vielem in Berührung kamen, was ihnen andernfalls hätte schaden können. Ich verheimlichte ihnen eben nichts, und es gab keinerlei Art von Sünden und üblen Sitten, über deren Existenz ich sie nicht unterrichtet hätte. Ich erklärte ihnen, welche Sorte von Menschen diesen Verirrungen frönten und diese benahmen sich auch so laut und auffällig, dass die Mädchen an meinen Worten nicht zweifeln konnten. Ich habe nie die Meinung vertreten, dass man den jungen Leuten das Bestehen unerwünschter Tatsachen verheimlichen sollte.

Ich habe sie auch lesen lassen, was sie wollten, aber wenn es sich um ein Buch handelte, das ich für reine Pornographie hielt, dann sagte ich das natürlich und fragte sie, warum sie es lesen wollten. Wenn ich dabei vollkommen offen und doch gleichzeitig gewillt war, sie selbst das lesen zu lassen, was ich ablehnte, so machte ich stets die Erfahrung, dass ihre angeborene Anständigkeit und ihr natürliches Feingefühl sie vollauf beschützten. Soviel ich weiss, gab es bei uns nie die Bücher, die unter der Bettdecke versteckt wurden, weil meine Töchter wussten, dass sie lesen konnten, was sie wollten und dass ich mich offen dazu äussern würde. Jedenfalls kamen sie gut durch die drei Sommer in Ascona hindurch und lernten viel, ohne dabei Schaden zu nehmen.

Den ersten Sommer in Ascona verbrachten wir in Olgas Villa, aber später wohnten wir in einem kleinen Landhaus oberhalb des Sees, das sie auf ihrem Gelände errichtet hatte. Ganz in der Nähe davon hatte sie eine wunderhübsche Vorlesungshalle erbauen lassen, wo morgens und nachmittags die Versammlungen stattfanden. Das Gelände war einmalig schön. Wir hatten ideale Gelegenheit zum Schwimmen und Bootfahren, und auf den ersten Blick schien uns alles wie ein Geschenk des Himmels, das viele Möglichkeiten für eine verheissungsvolle Zukunft in sich barg. Während des ersten Jahres unseres Aufenthalts war die Gruppe ziemlich klein, aber sie wuchs stetig während der nächsten zwei Jahre, und man kann wohl sagen, dass das Unternehmen grossen Erfolg hatte. Leute aus allen Nationen trafen sich dort, und durch das Zusammenleben lernte man sich sehr gut kennen. Es schien, als gäbe es keine nationalen Schranken, und wir alle sprachen die gleiche geistige Sprache.

Dort lernten wir zum ersten Mal Dr. Robert Assagioli kennen, der schon mehrere Jahre lang unser Vertreter in Italien gewesen war; unsere Verbindung mit ihm und die vielen Jahre gemeinsamer Tätigkeit bedeuten einen der grossen Lichtblicke unseres Lebens. Er war früher einmal einer der führenden Gehirnspezialisten in Rom gewesen, und als wir ihn kennenlernten, galt er als einer der hervorragendsten Psychologen Europas. Er ist ein Mensch von seltener Charakterschönheit. Sobald er in ein Zimmer trat, machte sich seine Gegenwart durch seine wesentlichen, geistigen Qualitäten bemerkbar. Frank D. Vanderlip stellt ihm in seinem Buch «What Next in Europe?» ein besonders bemerkenswertes Zeugnis aus. Er nennt ihn den modernen Franz von Assisi und bezeichnet den Morgen, den er mit ihm zubrachte, als den Höhepunkt seiner Europareise. Dr. Assagioli ist Jude. Als wir ihn damals in Ascona trafen und später in Italien besuchten, wurden die Juden dort gut behandelt. Die ungefähr 30'000 in Italien ansässigen Juden wurden als italienische Bürger geschätzt und waren keinerlei Einschränkungen oder Belästigungen ausgesetzt.

Die Ansprachen Dr. Assagiolis gehörten zu den Höhepunkten unserer Ascona-Konferenzen. Er hielt Vorlesungen in französischer, italienischer und englischer Sprache und die geistige Kraft, die durch ihn hindurchströmte, spornte viele zu erneuertem, geistigen Leben an. Während der ersten beiden Jahre trugen er und ich den Hauptanteil an den Vorlesungen, obwohl auch andere fähige und interessante Redner zugegen waren. Im letzten Jahr unseres Aufenthalts in Ascona wurde der Platz von deutschen Professoren überrannt, und dadurch änderte sich der Ton und die Qualität des Ganzen. Einige von ihnen waren höchst unerwünscht und brachten das Niveau von einer verhältnismässig hohen, geistigen Warte auf das Gebiet akademischer Philosophie und fragwürdiger Esoterik herunter. 1933 waren wir zum letzten Mal dort.

Das zweite Jahr in Ascona war besonders interessant. Grossfürst Alexander gesellte sich zu uns und hielt sehr interessante Ansprachen, aber noch wichtiger war der Besuch von Violet Tweedale. Das war für mich ein roter Tag im Kalender und ich sehe noch heute, wie sie mit ihrem Mann den Hügel herunterkam und durch die Kraft ihrer geistigen Persönlichkeit sofort im Mittelpunkt stand. Sie war sehr schön, sehr liebenswürdig und sehr vornehm, und es entwickelte sich vom ersten Augenblick an eine wirkliche Freundschaft zwischen ihr, ihrem Mann, Foster und mir. Später besuchten wir sie oft in ihrem wunderschönen Heim in Torquay, South Devon, und wenn ich müde wurde oder Sorgen hatte, dann pflegte ich zu Violet zu gehen, um mit ihr zu sprechen. Sie war eine äusserst produktive Schriftstellerin. Sie schrieb zahlreiche volkstümliche Novellen, und ihre auf

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.