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Die unvollendete Autobiographie, Seite 48 ff. (engl.)
auf dem Pfad einen ganz bestimmten Schritt vorwärts gekommen bin. Langsam und ohne es in meinem Gehirnbewusstsein zu wissen, vollzog ich damals den Übergang von Autoritätsabhängigkeit zu eigener Erfahrung, von einem engen, theologischen Glauben an die wörtliche Eingebung der Bibel und deren Auslegung durch meine besondere Glaubensrichtung zu einer bestimmten und sicheren Erkenntnis der geistigen Wahrheiten, für welche die Mystiker aller Zeiten Zeugnis ablegten und wofür viele von ihnen litten und starben.

Am Ende fand ich mich im Besitz eines Wissens, das die Probe der Zeit und der Anfechtung bestand, was mein früherer Glaube nicht fertiggebracht hatte. Es ist ein Wissen, das mir immer wieder erneut vor Augen führt, wie viel, wie unendlich viel mehr ich noch zu lernen habe. Wirkliches Wissen kennt keinen Ruhepunkt; es ist lediglich eine Pforte, die uns den Blick auf weit umfassendere Bereiche der Weisheit, der Errungenschaft und des Verstehens eröffnet. Es bedeutet lebendiges Wachsen ohne Ende. Wissen sollte von einer Entfaltung zur anderen führen. Es ist als hätte man einen Berggipfel erklommen, und als würde man in dem Augenblick, da man den höchsten Punkt erreicht, plötzlich ein Land der Verheissung vor sich sehen, in das man unbedingt weiterziehen muss; aber hinter diesem verheissenen Land taucht in weiter Ferne wieder ein neuer Gipfel auf, der noch weit ausgedehntere Gebiete verbirgt.

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich vom Fenster meines Schlafzimmers aus in der Ferne das Bergmassiv Kinchengunga, einen der höchsten Gipfel des Himalayagebirges sehen konnte. Es sah so nahe aus, als ob ein Tagesmarsch mich an seinen Fuss bringen könnte, und doch wusste ich, dass ein gesunder Bergsteiger dazu mindestens zwölf harte Tagesreisen brauchen würde, und dann stünde ihm immer noch der ungeheure Aufstieg zur Spitze bevor - eine nur selten vollbrachte Tat. So ist es auch mit unserem Wissen. Was daran wirklich begehrenswert ist, ist selten leicht erreichbar und bedeutet an sich nur eine Grundlage für weiteres Wissen.

Leute, die sich einbilden, alles zu wissen und alle Fragen beantworten zu können, erfüllen mich mit einem Gefühl des Mitleids, und ich verstehe, dass man mit ihnen Geduld haben muss. In diesem Zustand befand ich mich in jenen jungen Jahren, und ich war damals noch zu unreif, um über mich selbst zu lachen. Ich nahm mich im Gegenteil todernst. Heute kann ich darüber lachen und heute weiss ich ganz genau, dass ich nicht alle Antworten weiss. Von Doktrinen und Dogmen ist nur wenig, wenn überhaupt etwas, an mir hängen geblieben. Ich bin sicher, dass Christus lebt und bin ebenso von der Existenz der Meister überzeugt, die seine Jünger sind. Ich bin sicher, dass es einen Plan gibt, den sie auf Erden auszuführen versuchen, und ich glaube, dass allein schon ihr Dasein das Erreichen des letzten Ziels der Menschheit verbürgt und dass wir alle einmal so sein werden, wie sie sind. Ich kann nicht länger mit dem Brustton der Überzeugung sagen, was andere tun sollten. Deshalb erteile ich selten Ratschläge. Ich bilde mir bestimmt nicht ein, Gottes Denken auslegen oder seinen Willen erforschen zu können, wie es die Theologen der Welt tun.

Im Lauf meines Lebens sind, glaube ich, buchstäblich Tausende zu mir gekommen, die irgend etwas von mir erklärt haben wollten oder die mich um Rat fragten, was sie tun sollten. Eine Zeitlang musste meine Sekretärin alle zwanzig Minuten eine neue Verabredung für mich vorbuchen. Ein Grund, warum ich so viele Verabredungen hatte, lag vielleicht daran, dass ich keine Gebühren verlangte und dass die Menschen von jeher etwas gern haben, was nichts kostet. Manchmal konnte ich helfen, wenn die betreffende Person unvoreingenommen und bereit war, mir zuzuhören. Aber die meisten Leute wollten sich bloss aussprechen und dabei die Grundlage schaffen, auf der ihre eigenen, vorgefassten Ideen Rechtfertigung finden; sie wissen im voraus, welchen Rat man ihnen geben sollte. Meine Technik war meist die, sie ausreden zu lassen, bis sie selbst nichts mehr zu sagen hatten, und am Ende hatten sie häufig selbst die Antwort gefunden und ihre eigenen Probleme gelöst, was in jeden Fall das Gesündeste ist und auch wirksames Handeln verbürgt. Wenn sie dagegen bloss ihre eigene Stimme hören wollen und alles selbst wissen, dann bin ich hilflos und oft wirklich besorgt.

Ob andere Leute mit meiner besonderen Wissensart oder Formulierung der Wahrheit (die wir ja alle für eigene Zwecke nötig haben) übereinstimmen oder nicht, macht mir nichts aus, aber wenn sie mit ihrer eigenen Wahrheit vollkommen zufrieden sind, dann kann man ihnen unmöglich helfen. Die tiefste Hölle (wenn es so etwas gibt, was ich bezweifle) wäre für mich ein Zustand vollkommener Zufriedenheit mit dem eigenen Gesichtspunkt und demzufolge eine derartige Erstarrung, dass alle Evolution im Denken und aller Fortschritt auf die Dauer zum Stillstand gebracht würde. Glücklicherweise weiss ich, dass die Evolution lange währt und stetig fortschreitet; das beweist die Geschichte und die Zivilisation. Ich weiss ausserdem, dass hinter allen Denkvorgängen ein grosser Denker steht und dass ein Ruhezustand unmöglich ist.

Damals war ich jedoch eine waschechte Bibelgläubige. Ich begann meine Berufstätigkeit in der vollen Überzeugung, dass bestimmte theologische Grundlehren in der von führenden Männern der Kirche festgelegten Form die Gesamtsumme göttlicher Wahrheit bedeuteten. Ich wusste genau, was Gott wollte und war (auf Grund meiner vollkommenen Unwissenheit) jederzeit bereit, jedes beliebige Thema mit der Gewissheit zu diskutieren, dass mein Standpunkt richtig sein würde. Heute habe ich oft das Gefühl, dass doch immerhin eine Möglichkeit besteht, dass ich in meiner Diagnose und Heilverordnung irren könnte. Auch glaube ich bestimmt an die Tatsache der menschlichen Seele und an deren Fähigkeit, den Menschen «aus dem Dunkel ins Licht, und vom Unwirklichen zum Wirklichen» zu führen - wie es im ältesten Gebet der Welt lautet. Ich hatte damals noch nicht gelernt, dass «die Liebe Gottes umfassender als das Ausmass menschlichen Denkens, und das Herz des Ewigen von wohltuendster Freundlichkeit» ist. Es war aber kein wirklich freundlicher Gott, den ich verkündete. Gott war freundlich zu mir, weil er meine Augen geöffnet hatte und ebenso die Augen derer, die so dachten wie ich, aber er war durchaus bereit, alle übrigen Sünder der Welt zur Hölle zu schicken. So stand es in der Bibel und die Bibel hatte stets recht. Sie konnte unmöglich irren. Ich stimmte damals mit den Behauptungen eines berühmten Bibelinstituts der Vereinigten Staaten überein, welches sich «auf den Standpunkt der ursprünglichen Handschriften der Bibel» stellte. Wie gern möchte ich heute diese Leute fragen, wo denn diese ursprünglichen Handschriften zu finden sind. Ich glaubte an die wörtliche Eingebung der biblischen Schriften und wusste nichts von den Wechselfällen und dem quälenden Suchen, dem alle ehrlichen Buchübersetzer unterworfen sind, und von der Tatsache, dass sie den ursprünglichen Text nur in annähernder Bedeutung wiedergeben können. Erst während der letzten Jahre, als meine eigenen Bücher zur Übersetzung in verschiedene Fremdsprachen gelangten, kam mir die vollkommene Unmöglichkeit sinngetreuer Wiedergabe lebhaft zum Bewusstsein. Wenn Gott englisch gesprochen hätte, wenn Christus auf englisch gepredigt hätte, dann könnte man vielleicht der Genauigkeit der Wiedergabe gewiss sein; aber das war ja nicht der Fall.

Ein in okkulten Büchern immer wiederkehrendes Wort ist «Path» (Pfad), d.h. der Rückweg zu unserem Ursprung, zu Gott und zum geistigen Mittelpunkt allen Lebens. Welches Wort kommt dabei in einer französischen Übersetzung in Frage? Le chemin, la rue, le sentier oder was? Wenn man demnach den Versuch macht, ein so uraltes Buch wie das Neue Testament ins Englische zu übersetzen, wieviel sinngetreue Wiedergabe könnte dabei überhaupt in Frage kommen? Die einzige Grundlage besteht doch höchstens in einer uralten Übersetzung aus dem Arimäischen oder Hebräischen ins Altgriechische; aus dem Griechischen ins Lateinische und aus dem Lateinischen ins Altenglische, woraus dann schliesslich die jetzige offizielle «St. James»-Ausgabe hervorging. Dasselbe gilt für Bibelübersetzungen in alle anderen Sprachen. Ich habe mir erzählen lassen, dass man zur Zeit bei der Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische die Worte «Wasser des Lebens» (siehe Offenbarung 22, 17; ebenso 22, 1 u. Ev. Joh. 4, 10 u. 4, 11) ganz einfach und vergnügt mit «eau de vie» wiedergab. Erst nach der Veröffentlichung kam man darauf, dass diese drei Worte die französische Bezeichnung für Branntwein sind und im Neudruck hiess es dann «eau vive», was doch immerhin nicht ganz dasselbe ist. Bibelübersetzungen sind durch viele Hände gegangen; sie sind das Resultat des theologischen Denkens vieler Mönche und Übersetzer, und daraus entstehen die endlosen Streitigkeiten der Theologen über Sinn und Bedeutung. Daraus erklärt sich auch die wahrscheinlich unrichtige Übersetzung von uralten Begriffen und ebenso die wohlgemeinten aber ungeschlachten Interpolationen frühchristlicher Mönche, welche diese uralten Schriften in ihrer Muttersprache wiederzugeben versuchten. All das ist mir jetzt klar, aber damals war mir die englische Bibel unfehlbar richtig und ich wusste nichts von Übersetzungsschwierigkeiten. Das war also mein Geisteszustand, als eine grosse Veränderung in meinem Leben vor sich ging.

Meine Schwester teilte mir ihre Absicht mit, auf der Universität Edinburgh Medizin zu studieren und das stellte mich unmittelbar vor die Frage, was ich selbst tun sollte. Ich wollte nicht allein leben oder die Zeit mit Reisen und Vergnügungen verbringen. Ich wollte merkwürdigerweise keine Missionarin werden. Mir lag daran, Gutes zu tun, aber ich wusste nicht was. Ich bin einem Pfarrer sehr zu Dank verpflichtet, der mich damals gut kannte und mir vorschlug, Evangelistin zu werden. Das lockte mich nicht besonders. Die Erweckungsprediger, die ich kennengelernt hatte (und es waren ihrer viele), hatten keinen grossen Eindruck auf mich gemacht. Sie schienen mir ziemlich ungebildete Leute zu sein; sie trugen billige und schlecht sitzende Kleidung und ihr Haar war meistens ungebürstet; sie hielten sich scheinbar für zu gut, um auf ihr äusseres Wert legen zu müssen. Ich konnte mich nicht in die Rolle hineinversetzen, auf einem Podium zu stehen und nach ihrem Muster zu schreien und schwülstige Reden zu führen, wie das unter solchen Umständen erwartet wurde, um die Menge aufzurütteln. Ich zögerte und blieb unschlüssig, und als ich die Sache mit meiner Tante besprach, ging es ihr ebenso. Ausserdem schickte sich so etwas nicht für junge Mädchen meiner Gesellschaftsklasse. Meine Kleidung, Ausdrucksweise, Haarfrisur und Schmucksachen würden nicht zu der Art von Leuten passen, die Bekehrungs-Versammlungen besuchten, um sich erlösen zu lassen. Es schickte sich einfach nicht. Ich betete jedoch und wartete und glaubte, ich würde eines Tages einen «Ruf» bekommen, und dann würde ich schon wissen, was zu tun sei.

Um die Zwischenpause auszufüllen, amüsierte ich mich damit, mich (wie ich mir einbildete) in einen Pfarrer namens Roberts zu verlieben. Er war tödlich langweilig, furchtbar schüchtern und Jahre älter als ich, und so machte ich gute Miene zum bösen Spiel und zog mich von ihm zurück, - woraus man sehen kann, wie tief mein Gefühl für ihn war.

Eines Tages erhielt ich eine unerwartete Aufforderung zum Besuch der «Sandes» Soldatenheime in Irland. Nachdem ich meine Schwester in ihrer neuen Behausung in Edinburg untergebracht hatte, fuhr ich nach Irland hinüber, um mir die Sache näher anzusehen. Ich fand diese Soldatenheime ziemlich einzig in ihrer Art, und Miss Elise Sandes selbst war eine sehr feinsinnige, liebenswürdige und kultivierte Frau. Die Frauen und Mädchen, die für sie arbeiteten, gehörten alle derselben Gesellschaftsklasse an wie ich. Miss Sandes hatte ihr Leben vollständig dem Versuch gewidmet, das Los der «Tommy Atkins» (Landser) zu erleichtern, und sie leitete ihre Heime nach Grundsätzen, die sich von den sonst in Armeelagern üblichen sehr unterschieden und auch von dem gewöhnlichen Bekehrungswerk abwichen, das man in Grossstädten antrifft. Sie unterhielt viele Soldatenheime in Irland und einige in Indien. Unter den Heimarbeitern fand ich verschiedene, mit denen ich mich anfreundete und die mir sehr dabei halfen, mich in die veränderte Umgebung einzugewöhnen - Edith Arbuthnot-Holmes, Eva Maguire, John Kinahan, Catherine Rowan-Hamilton und andere.

Meine erste Erfahrung in dieser Betätigung machte ich im Heim in Belfast. All diese Heime waren mit geräumigen Kantinen ausgerüstet, in denen allabendlich Hunderte von Männern zum Selbstkostenpreis abgefüttert wurden. Dann gab es Räume, in denen sie Briefe schreiben, Spiele spielen, um den Kamin herum sitzen, Zeitung lesen und Schach oder Dame spielen oder auch mit uns sprechen konnten, wenn sie einsam, niedergeschlagen und voller Heimweh waren. Gewöhnlich gehörten zwei Damen zu jedem Heim, und wir hatten dort auch unsere eigenen Unterkunftsräume. Häufig war ein grosser Schlafsaal vorhanden, in dem Soldaten und Matrosen auf Urlaub übernachten konnten, ausserdem ein Andachtsraum mit Harmonium, Gesangbüchern, Bibeln und Stühlen und irgend jemandem, der die Bibel auslegen und den Leuten im Interesse ihres Seelenheils gut zureden konnte. Ich musste mich in jedem Dienstbereich einarbeiten und es war wirklich eine harte Arbeit, obwohl ich feststellte, dass ich daran in jeder Beziehung Freude fand. Die ersten Monate waren die schwersten. Es war keine Kleinigkeit für ein schüchternes Mädchen (und ich war mehr als schüchtern), einen Raum mit vielleicht dreihundert Männern und wahrscheinlich keiner einzigen anderen Frau zu betreten und sich mit ihnen anzufreunden; auf sie zuzugehen, sich neben sie zu setzen und mit ihnen Dame zu spielen; nett zu ihnen zu sein und doch unpersönlich zu bleiben und gleichzeitig das Gefühl zu erwecken, dass man sich um sie sorgte und ihnen helfen wollte.

Ich werde nie die erste Bibelstunde vergessen, die ich übernahm. Ich war an

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.