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Die unvollendete Autobiographie, Seite 9 ff. (engl.)
unerfreulichen Augenblicke und tragischen Begebenheiten gern vermerkt und betont, aber die Augenblicke der Heiterkeit und Freude, des ereignislosen Friedens und Wohlbefindens übersieht. Unsere Stunden der Spannung und Bedrängnis scheinen unser Bewusstsein (diesen eigenartigen Aufnahme-Apparat aller Ereignisse) weit mehr zu beeindrucken, als die zahllosen Stunden des alltäglichen Lebens. Wenn es auch nicht so scheinen mag, so sind doch diese ruhigen und ereignislosen Stunden letzten Endes bei weitem in der Überzahl. Es sind die Stunden, Tage, Wochen und Monate, in denen unser Charakter geformt, gefestigt und verwendungsfähig wird für die Zeiten der Krisen - der wirklichen, objektiven und oft bedeutenden Krisen - die uns im Lauf der Jahre immer wieder entgegentreten. Dann besteht das, was wir an Charakter entwickelt haben, entweder die Probe und deutet auf einen Ausweg, oder es versagt, und wir erleiden, wenigstens vorübergehend, eine Niederlage. Auf diese Weise werden wir gezwungen, immer von neuem zu lernen. Wenn ich so auf meine Kindheit zurückblicke, so sind es nicht die zahllosen Stunden ereignisloser Zufriedenheit, die Augenblicke des friedlichen Rhythmus und die ruhigen Wochen, die in meinem Gedächtnis fortdauern, sondern die Augenblicke der Krise, die Stunden, in denen ich todunglücklich, und die Zeiten, in denen das Leben scheinbar zu Ende war, und auch die Zukunft nichts erwarten liess, was irgendwie der Mühe wert schien.

Ich erinnere mich, wie meine älteste Tochter an solch einem Punkt anlangte, als sie etwas über zwanzig war. Sie hatte das Gefühl, dass jedes Weiterleben zwecklos sei und bestenfalls monotone Kraftvergeudung bedeuten würde. Warum war das Leben so sinnlos? Warum sollte sie sich damit abfinden? Erst wusste ich nicht, was ich ihr sagen sollte, aber dann erinnerte ich mich an meine eigene Erfahrung und ich weiss noch genau, wie ich ihr erklärte: «Eins kann ich dir versichern, liebes Kind, du weisst nie, was dir die nächste Wegbiegung eröffnet». Ich habe nie gefunden, dass Religion oder allgemeine Redensarten - wie man sie gewöhnlich verzapft - in einer Krisenzeit helfen. Was ihr die nächste Wegbiegung brachte, war der Mann, den sie heiratete, mit dem sie sich innerhalb einer Woche verlobte und mit dem sie seither glücklich lebt.

Man muss das Innewerden all jener Umstände pflegen, die Freude und Zufriedenheit bringen und nicht bloss das wahrnehmen, was Trauer und Not bedeutet. Das Gute sowohl als auch das Böse machen die Summe dessen aus, worauf es ankommt und was der Erinnerung wert ist. Das Gute macht es uns möglich, unseren Glauben an die Liebe Gottes zu bewahren. Das Böse bringt Selbstzucht und spornt uns zu höherer Leistung an. Die Augenblicke des Entzückens, wenn ein Sonnenuntergang unsere staunenden Blicke fesselt oder wenn das Schweigen einer Heidelandschaft tief und ungestört unsern Geist bezaubert - daran sollte man sich erinnern; eine Bergsilhouette am Abendhimmel oder die Farbenpracht eines Gartens, die uns die übrige Welt vergessen lassen; ein Zuruf von Freund zu Freund und eine darauffolgende Stunde wohltuender Seelengemeinschaft; irgendeine schöne Wesensäusserung der Menschenseele, die sich sieghaft aus ihrer Bedrängnis emporschwingt - das sind die Dinge, die wir nicht unbeachtet lassen sollten. Sie sind die wirklich bestimmenden Momente des Lebens. Sie sind Anzeichen des Göttlichen. Wie kommt es, dass man sie so oft vergisst und lieber das Unangenehme, Traurige oder Erschreckende fest im Gedächtnis behält? Ich weiss nicht warum. Auf unserem sonderbaren Planeten prägt sich das Leiden offenbar tiefer ein, als das Glück, und dessen Nachwirkungen sind auch wohl länger spürbar. Vielleicht haben wir auch Angst vor dem Glück und stossen es von uns weg unter dem Einfluss einer Eigenschaft, die den Menschen mehr als irgendeine andere kennzeichnet, nämlich der FURCHT.

In esoterischen Kreisen hört man viel gelehrtes Gerede über das Gesetz von Karma, was doch nur die östliche Bezeichnung für das grosse Gesetz von Ursache und Wirkung ist; und dabei betont man stets nur das böse Karma und wie es sich vermeiden lässt. Ich möchte aber bürgen, dass es im grossen und ganzen weit mehr gutes als böses Karma gibt; das behaupte ich trotz des Weltkrieges und trotz der unaussprechlichen Greuel, die wir durchgemacht haben, und die uns noch heute umgeben, und trotz meiner persönlichen Einsicht in die Dinge, die all denen vertraut sind, die in der Sozialfürsorge arbeiten. Das Böse und das Elend wird vergehen, aber die Zufriedenheit wird bleiben; vor allem wird man zu der Erkenntnis kommen, dass das, was wir so schlecht aufgebaut haben, verschwinden muss und dass sich uns jetzt die Gelegenheit bietet, eine neue und bessere Welt zu erschaffen. Das ist wahr, weil Gott gut ist, weil Leben und Erfahrung gut sind und weil der Wille zum Guten ewig gegenwärtig bleibt. Von jeher wird uns Gelegenheit geboten, das von uns begangene Unrecht wieder gutzumachen und die Falten auszubügeln.

Die einzelnen Gründe für meine damalige Unzufriedenheit liegen so weit zurück, dass ich darauf nicht im besonderen eingehen kann, und was ich davon behalten habe, möchte ich dem Leser nicht aufbürden. Viele Ursachen lagen in mir selbst, das weiss ich genau. Vom weltlichen Standpunkt aus hatte ich keinen Grund, unzufrieden zu sein, und meine Familie und meine Freunde wären sehr überrascht gewesen, wenn sie etwas davon gewusst hätten. Haben wir nicht alle manchmal darüber nachgedacht, was wohl in der Gedankenwelt eines Kindes vor sich gehen mag? Kinder haben ganz bestimmte Ideen über das Leben und seine äusseren Umstände, sie leben in ihrer eigenen Welt, in die man sich nicht einmischen kann, was Erwachsene aber selten zugeben. Ich kann mich keiner Zeit entsinnen, in der ich nicht nachdachte, mir den Kopf zerbrach und Fragen stellte oder mich empörte und Hoffnungen schmiedete. Und dennoch entdeckte ich erst mit fünfunddreissig Jahren, dass ich ein Denkvermögen besass und dass sich damit etwas anfangen lässt. Bis dahin war ich ein Bündel von Gefühlswallungen und Stimmungen; mein Denkvermögen - soweit vorhanden - hatte mich benutzt, anstatt dass ich es benutzte. Auf alle Fälle fühlte ich mich tief unglücklich bis ich mich im Alter von etwa zweiundzwanzig Jahren selbständig machte und mein eigenes Leben zu führen begann. Während meiner Kinderzeit war ich von Schönheit umgeben; mein Leben war voller Abwechslung und ich lernte viele interessante Menschen kennen. Ich erfuhr niemals, was es heisst, irgend etwas zu entbehren. Ich wuchs im üblichen Luxus meiner Zeit und meiner sozialen Klasse auf; ich war äusserst wohlbehütet, aber innerlich widerstand mir das alles.

Ich wurde am 16. Juni 1880 in der englischen Stadt Manchester geboren, wo mein Vater an einem Bauprojekt beschäftigt war, welches die Firma seines Vaters - eine der bedeutendsten Ingenieurfirmen in Grossbritannien - unternommen hatte. Ich bin also im Zeichen der Zwillinge (Gemini) geboren. Das bedeutet stets einen Konflikt zwischen den Gegensätzen - Armut und Reichtum, höchstem Glück und tiefstem Schmerz, Kampf zwischen Seele und Persönlichkeit oder zwischen dem höheren Selbst und der niederen Natur. Die Vereinigten Staaten und die Stadt London stehen unter dem Einfluss von Gemini und daher kommt es, dass in den Staaten und in Grossbritannien der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit gelöst werden wird, zwischen zwei Gruppen, welche die Interessen der sehr Reichen und der sehr Armen vertreten.

Bis 1908 kannte ich keinen Mangel; ich brauchte nie über Geld nachzudenken; ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Von da an aber lernte ich die Tiefen der Armut kennen. Ich lebte einmal drei Wochen lang von Tee (ohne Milch und Zucker) und trockenem Brot, damit meine drei Kinder das Notwendigste zu essen hatten. Als junges Mädchen war ich wochenlang in vielen reichen Häusern zu Besuch, aber später arbeitete ich als Handlangerin in einer Fabrik, um meine Kinder zu ernähren. Es war eine Sardinen-Konservenfabrik, und bis zum heutigen Tag sehe ich einer Sardine nicht gerne ins Auge. Meine Freunde (und ich benutze dieses Wort in seinem wahrsten Sinn) gehörten allen sozialen Schichten an, von der niedrigsten bis zu Leuten wie dem Grossfürsten Alexander, einem Schwager des letzten Zaren. Ich habe niemals lange am gleichen Platz gewohnt, denn ein Zwillingsmensch bleibt stets in Bewegung. Mein kleiner Enkel, der auch ein wahrer «Zwilling» ist, überquerte zweimal den Atlantik und fuhr zweimal durch den Panamakanal, ehe er vier Jahre alt war. Der Gemini-Einfluss bedeutet andererseits, dass ich, wenn ich mich nicht sehr zusammennahm, immer entweder auf den höchsten Höhen ausgelassenster Glückseligkeit schwebte oder aber von Gram überwältigt in die Tiefen der Verzweiflung herabsank. Aufgrund langer Erfahrung habe ich beide Extreme abzuweisen gelernt und versuche stets, auf ebener Erde zu bleiben. Allerdings gelingt mir das auch nicht immer.

Der Hauptkonflikt meines Lebens war der Kampf zwischen meiner Seele und meiner Persönlichkeit und er hält noch immer an. Dabei fällt mir eine Versammlung einer gewissen «Gruppenbewegung» ein, zu der man mich im Jahr 1935 nach Genf lockte. Ein «gewerbsmässiger» Gruppenleiter mit geschniegeltem Lächeln und harten Zügen amtierte als Vorsitzender, und viele der Anwesenden waren sehr erpicht darauf, ihre Sündhaftigkeit zu beichten und für die erlösende Kraft Christi Zeugnis abzulegen, wobei sie den Eindruck erweckten, als sei Gott persönlich daran interessiert, dass sie (wie eine Anwesende in ihrem Sündenbekenntnis erwähnte) sich bei ihrer Köchin entschuldigte, weil sie zu ihr grob gewesen war. Meines Ermessens hätten hier gute Manieren genügt, ohne dass auf Gott hätte zurückgegriffen werden müssen. Jedenfalls erhob sich eine reizende, ältere Dame, sehr gewandt und mit schelmischem Lächeln. «Sie haben sicher ein wundervolles Zeugnis abzulegen», sagte der Vorsitzende. «Nein», antwortete die Dame, «nein, der Kampf zwischen Christus und mir selbst ist immer noch im Gang, und ich bin mir durchaus nicht sicher, wer die Oberhand behalten wird». Ein solcher Kampf währt immerzu und im Fall eines aufgeweckten und dienenden Zwillingsmenschen nimmt er vitale Bedeutung an, wenn diese auch rein privater Natur ist.

Zwillingsmenschen stehen auch in dem Ruf, wie ein Chamäleon leicht die Farbe zu wechseln, wankelmütig und oft unaufrichtig zu sein. So bin ich allerdings nicht, obschon ich viele Fehler habe, und vielleicht rettet mich mein aufsteigendes Zeichen. Ich habe mich darüber amüsiert, dass führende Astrologen mir verschiedene Zeichen als meinen Aszendenten zuweisen - Virgo (Jungfrau), weil ich Kinder liebe und gern koche und eine Organisation «bemuttere»; Leo (Löwe), weil ich sehr individuell bin (damit meinen sie schwer zu behandeln und dominierend) und ausserdem sehr selbstbewusst; und Pisces (Fische), weil es das Zeichen des Mittlers oder Vermittlers ist. Ich selbst neige zu Pisces, weil mein Mann in diesem Zeichen geboren ist und ebenso meine mir sehr nahe stehende älteste Tochter, mit der ich mich so gut verstand, dass wir uns oft gezankt haben. Ausserdem bin ich bestimmt als Vermittler tätig gewesen, in dem Sinn, dass gewisse Lehren, welche die Hierarchie der Meister in diesem Jahrhundert der Welt übermitteln wollte, in den Büchern enthalten sind, für die ich verantwortlich bin. Was auch mein aufsteigendes Zeichen sein mag, ich bin auf alle Fälle ein echter Zwillingsmensch, und dieses Zeichen hat allem Anschein nach mein Leben und meine Lebensumstände bestimmt.

Die allgemeine und ziemlich undefinierbare Unzufriedenheit meiner Kindheit hatte verschiedene Gründe. Ich war die Unansehnlichste einer ausserordentlich gut aussehenden Familie und ich bin nicht etwa hässlich. Man hielt mich immer für ziemlich dumm in der Schule und für die am wenigsten Intelligente in einer intelligenten Familie.

Meine Schwester war eines der schönsten Mädchen, die ich je zu Gesicht bekam, und sie war äusserst klug. Ich habe immer sehr an ihr gehangen, obwohl sie für mich nichts übrig hat, denn sie ist eine orthodoxe Christin und sie betrachtet jeden, der das Missgeschick einer Ehescheidung erlitt, als Ausgestossene. Sie ist Ärztin und war eine der ersten Frauen in der langen, langen Geschichte der Universität Edinburgh, die mit einem Doktordiplom ausgezeichnet wurde, und wenn ich mich recht entsinne, gelang ihr das zweimal. Sie war noch sehr jung, als sie drei Bände ihrer Gedichte veröffentlichte, und ich habe Kritiken dieser Bücher in der literarischen Beilage der London Times gelesen, die sie als Englands grösste lebende Dichterin bezeichneten. Ein Buch, das sie über Biologie schrieb, und ein anderes über tropische Krankheiten werden, soviel ich weiss, als mustergültige Lehrbücher auf diesen Gebieten betrachtet.

Sie heiratete meinen Vetter ersten Grades, Laurence Parsons, einen bekannten Geistlichen der Anglikanischen Kirche, der eine Zeitlang Dekan der Kapkolonie war. Seine Mutter war der vom Kanzleigericht ernannte Vormund meiner Schwester und meiner selbst. Sie war meines Vaters jüngste Schwester, und Laurence war einer ihrer sechs Söhne, mit denen wir als Kinder viel zusammen waren. Ihr Mann, mein Onkel Clare, ein ziemlich harter und strenger Mensch, war der Bruder des Lord Rosse und Sohn des Lord Rosse, der sich als Astronom einen Namen machte und in der Geheimlehre erwähnt wird. Als Kind hatte ich schrecklich Angst vor ihm, aber ehe er starb, zeigte er mir die andere Seite seines Wesens, die nicht allgemein bekannt war. Die ausserordentliche Freundlichkeit, die er mir während des ersten Weltkrieges bewies, als ich in grösster Armut in Amerika gestrandet war, werde ich nie vergessen. Er schrieb mir hilfreiche und veständnisvolle Briefe und liess mich fühlen, dass es Leute in England gab, die mich nicht vergessen hatten. Ich möchte das hier erwähnen, weil ich nicht glaube, dass seine Familie oder seine Schwiegertochter, meine Schwester, irgendeine Ahnung hatten von den freundlichen Beziehungen, die zwischen mir und meinem Onkel gegen Ende seines Lebens bestanden. Er hat sie nie erwähnt, das weiss ich bestimmt, und auch ich habe bis jetzt darüber geschwiegen.

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Last updated Saturday, February 14, 1998           © 1998 Netnews Association. All rights reserved.